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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0306
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Stellenkommentar GT 14, KSA 1, S. 92-94 285

93, 9-16 Der Hauptvorwurf, den Plato der älteren Kunst zu machen hatte, -
dass sie Nachahmung eines Scheinbildes sei, also noch einer niedrigeren Sphäre
als die empirische Welt ist, angehöre [...] und so sehen wir denn Plato bestrebt
über die Wirklichkeit hinaus zu gehn und die jener Pseudo-Wirklichkeit zu
Grunde liegende Idee darzustellen.] Nach Platons Politeia 596e-602b. In der hier-
archischen Ordnung von Platons Ideenlehre kommt den Ideen das ewige, d. h.
der Zeit enthobene und eigentliche Sein zu. Die vergänglichen Dinge der empi-
rischen Welt, die von diesen ewigen Ideen lediglich abgeleitet und insofern
ontologisch minderen Ranges sind, erweisen sich dagegen nur als Scheinbil-
der. Da die Kunst auf der „Nachahmung“ (Mimesis) dieser Scheinbilder beruht,
steht sie in dieser hierarchischen Ordnung auf der dritten und untersten Stufe.
93, 26-31 auf welchem Wege die cynischen Schriftsteller noch weiter gegan-
gen sind, die in der grössten Buntscheckigkeit des Stils, im Hin- und Herschwan-
ken zwischen prosaischen und metrischen Formen auch das litterarische Bild des
„rasenden Sokrates“, den sie im Leben darzustellen pflegten, erreicht haben.]
N. denkt hier an den Kyniker Menippos von Gadara, der in der 1. Hälfte des
3. Jahrhunderts v. Chr. lebte und in seinen (verlorenen) Satiren Prosa und Verse
mischte. Damit wie überhaupt mit der „Buntscheckigkeit des Stils“ wirkte er
stark auf die Saturae Menippeae der Römer, so auf die Saturae Menippeae des
Varro, die zwischen 81 und 67 v. Chr. entstanden, auf Senecas Apocolocyntosis,
Petrons Satyrica und Lukians Ikaromenippos. Die Menippeische Satire ist nur
gelegentlich „Satire“ im modernen Sinn; primär bezeichnet das Wort „Satura“
Uneinheitlichkeit und bunte Mannigfaltigkeit der Themen und Formen. N.
hatte sich wissenschaftlich mit der menippeischen Satire beschäftigt (KGW I 5,
7-11). Vgl. auch KSA 6,155, 23 f. Das „litterarische Bild des ,rasenden Sokrates“4
geht auf Berichte zurück, denen zufolge Platon die Leitfigur der Kyniker, den
Diogenes von Sinope, einen „rasenden Sokrates“ genannt habe (Diogenes
Laertius 6, 54; Aelian, historia 14, 33. Vgl. Socraticorum reliquiae, 4 Bde, hg.
von Gabriele Giannantoni, Napoli 1990, Bd. 2, S. 253.)
94, 2-4 Wirklich hat für die ganze Nachwelt Plato das Vorbild einer neuen
Kunstform gegeben, das Vorbild des Roman’s] Ist schon vorher die Deutung
des platonischen Dialogs als einer bunten „Mischung aller vorhandenen Stile
und Formen“ eine durch Rückprojektion von Phänomenen des Historismus im
19. Jahrhundert bedingte Übertreibung, so geht die von N. hier gezogene Ver-
bindungslinie vom platonischen Dialog zum antiken Roman an der histori-
schen Realität vorbei. Erst ein halbes Jahrtausend nach Platon, im 2. Jahrhun-
dert n. Chr., entstand der griechische Roman. Seine bedeutendsten Vertreter
waren Longos mit seinen Hirtengeschichten von Daphnis und Chloe (um 200
n. Chr.) und Heliodor mit seinen Äthiopischen Geschichten (Aithiopikä, 3./4. Jh.
 
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