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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0317
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296 Die Geburt der Tragödie

sches interpretiren lässt.] Den hier impliziten Bezug auf Aristoteles (zu dessen
Syllogistik vgl. den Kommentar zu 100, 29-101, 1) formuliert N. explizit in
einem gestrichenen Notat zur Druckvorlage dieser Stelle: „Wir haben Aeschy-
lus, um der griechischen Tragödie ins Herz zu schauen: was kann uns die
aristotelische Kunstlehre noch dazu geben? Lauter fragwürdige Dinge, die
schon allzu lange heillos der tiefsinnigen Betrachtung des antiken Dramas ent-
gegengewirkt haben:-44 (KSA 14, 53). Der mit einem apodiktischen Aus-
schließlichkeitsanspruch vorgetragene Versuch, das „Wesen der Tragödie“ zu
„interpretiren“, folgt dem im ersten Kapitel der Tragödienschrift entworfenen
Schema, das den dionysischen Rausch und den apollinischen Traum als kom-
plementäre Zustände darstellt. Die aristotelische „Dialektik“ (vgl. hierzu schon
94, 11-23), die mit der in den „Syllogismen“ kondensierten Logik (vgl. NK 100,
29-101,1) eng zusammenhängt, dient hier als der dem rationalistischen Sokra-
tismus zugerechnete, nicht mehr in einen komplementären Zusammenhang zu
integrierende Gegenpol einer rauschhaft-dionysischen Musik. Sie ist also nicht
etwa der Sphäre des Apollinischen zuzuordnen.
95, 33-96, 2 wohin denn eine solche Erscheinung wie die des Sokrates deute:
die wir doch nicht im Stande sind, Angesichts der platonischen Dialoge, als eine
nur auflösende negative Macht zu begreifen.] Trotz seiner Nähe zu manchen
sophistischen Verfahren erscheint Sokrates in Platons Dialogen im Unterschied
zu einigen seiner sophistischen Gesprächspartner als eine von hohem Wahr-
heitsethos, von der Frage nach dem rechten Leben und der „Sorge um die
Seele“ bestimmte Persönlichkeit.
96,11-21 Oefters kam ihm, wie er im Gefängniss seinen Freunden erzählt, ein
und dieselbe Traumerscheinung, die immer dasselbe sagte: „Sokrates, treibe
Musik!“ [...] in dieser Gesinnung dichtet er ein Proömium auf Apollo und bringt
einige aesopische Fabeln in Verse.] Nach Platons Dialog Phaidon, der im
Gefängnis spielt und Sokrates im Gespräch mit Freunden und in Erwartung
seiner bevorstehenden Hinrichtung zeigt (60c-61b). Einer von ihnen fragt ihn:
„nach deinen Gedichten, die du gemacht hast, indem du die Fabeln des Aiso-
pos in Verse gebracht, und nach dem Vorgesang an den Apollon (nepi yötp toi
tcüv notppäTGJv (bv nenoipKaq cvTcivaq Tovq tov Aiaconov Aöyovq Kai to ciq
töv ÄnöAAcü npooipiov; 60 c9-d2) haben mich auch andere schon gefragt, und
noch neulich, wie es doch zugehe, daß, seitdem du dich hier befindest, du
Verse machest“, worauf Sokrates antwortet: „es ist oft derselbe Traum vorge-
kommen in dem nun vergangenen Leben, der mir, bald in dieser, bald in jener
Gestalt erscheinend, immer dasselbe sagte: ,0 Sokrates4, sprach er, ,mach und
treibe Musik!4 (ei) ZcoKpaTEq, ecpp, povaiKpv noici Kai epyä^ov, 60 e 6-7)“. Das
„Proömium auf Apollo“ dichtete Sokrates, weil seine Hinrichtung aufgrund
eines Apollon-Festes verschoben worden war.
 
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