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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0318
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Stellenkommentar GT 15, KSA 1, S. 95-97 297

15. Kapitel
Dieses Kapitel geht von der am Ende des 14. Kapitels evozierten Gestalt des
sterbenden Sokrates aus, der in Erwartung des Todes Musik treibt und damit
die philosophische Sphäre, in die sein Leben bisher gehörte, verläßt, um sich
der Kunst zu widmen. Da N. die Kunst, insbesondere die Musik, dem Bereich
des Irrationalen und Unbewußten zuweist und insofern als Gegensatz zum
rationalen Wissen versteht, ereignet sich in seiner Sicht bei Sokrates, der sich
am Ende seines Lebens aufgrund eines traumhaft aus dem Unbewußten kom-
menden Befehls der Musik zuwendet, ein entscheidender „Umschlag“. Die ein-
leitende Partie, die den Sokrates als „Typus des theoretischen Men-
schen“ (98, 9f.) in problematischer Weise zum Paradigma auch der
modernen „Wissenschaft“ erhebt, gipfelt in der Vorstellung, daß sich ein sol-
cher „Umschlag“ mit innerer Notwendigkeit ergeben muß, wenn die Wissen-
schaft an ihre „Grenzen“ stößt (99,12-17). Nach einem Mittelteil (99,18-101,18),
der die Aporie einer immer weiter und mit einem universalen Anspruch aus-
greifenden Wissenschaft erörtert, kehrt der Schlußteil (101, 19-102, 21) dieses
zyklisch konfigurierten Kapitels zu der Vorstellung des entscheidenden
„Umschlags“ zurück, um das eigentliche, aktuelle Ziel der Darlegungen ins
Blickfeld zu rücken: den befreienden „Umschlag“ von der Wissenschaftskultur
des 19. Jahrhunderts in die musikalische Welt Richard Wagners, welche N. im
folgenden 16. Kapitel als eine „Wiedergeburt der Tragödie“ (103, 13f.)
aus dem Geiste der Musik interpretiert.
97, 7 f. der Kunst im bereits metaphysischen, weitesten und tiefsten Sinne] Näm-
lich der Kunst, wie sie Schopenhauer, insbesondere im Hinblick auf die Musik,
„metaphysisch“ gedeutet hatte. Vgl. NK 25, 16 f. sowie das Schopenhauer-Zitat
in NK 106, 1-6.
97,14-19 Fast jede Zeit und Bildungsstufe hat einmal sich mit tiefem Missmu-
the von den Griechen zu befreien gesucht, weil Angesichts derselben alles Selbst-
geleistete, scheinbar völlig Originelle [...] plötzlich Farbe und Leben zu verlieren
schien und zur misslungenen Copie, ja zur Caricatur zusammenschrumpfte.]
Diese Befreiungsversuche hatten sich schon in der italienischen Renaissance
angebahnt und dann in Frankreich gegen Ende des 17. Jahrhunderts durch die
Querelle des Anciens et des Modernes, d. h. den Streit zwischen den Parteigän-
gern einer zeitlos gültigen Antike und denjenigen einer modernen Emanzipa-
tion von der Antike, einen europäischen Widerhall gefunden. Die Querelle
strahlte bis weit ins 18. Jahrhundert aus. Charles Perrault, der Wortführer der
,Modernen4, setzt bereits das Genie und das „Original“ vom „Kopisten“ ab - N.
spricht vom „Originellen“ und von der „Copie“. „L’idee d’excellent homme et
 
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