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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0320
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Stellenkommentar GT 15, KSA 1, S. 97-98 299

vorplatonischen Philosophen (WS 1869/70 u. ö.) notierte N.: „Die Griechen
haben die Philosophentypen geschaffen: man denke an eine so individu-
ell verschiedene Gesellschaft wie Pythagoras Heraclit, Empedocles, Parmeni-
des, Democrit, Protagoras Socrates. Die Erfindsamkeit hierin zeichnet die Grie-
chen vor allen Völkern aus: gewöhnlich produzirt ein Volk nur einen
festbleibenden Philosophentypus“ (KGW II 4, 212). Es läßt sich nicht erweisen,
daß es sich um eine vor Sokrates „unerhörte“ Daseinsform handelt, eher
scheint das Gegenteil zuzutreffen. So ist von Heraklit überliefert, daß er,
obwohl er aus königlichem Geschlecht stammte und sich ihm mit hohen Ehren
verbundene praktische Wirkungsmöglichkeiten boten, doch ein Leben für die
Philosophie, also die Daseinsform des „theoretischen Menschen“ vorzog (Dio-
genes Laertius 9, 6). Auch im Hinblick auf das von Sokrates selbst Überlieferte,
unabhängig von der Stilisierung der Sokrates-,Figur4 durch Platon, ist es frag-
würdig, vom Typus des theoretischen Menschen zu sprechen, da er durchaus
auch im praktischen Leben wirkte (vgl. NK 88, 14-22). N. benutzt die von ihm
vollzogene Typisierung des Sokrates, um im Folgenden eine durch die „Wissen-
schaft“ bedingte Daseinsform zu problematisieren. Dabei polemisiert er indi-
rekt auch gegen das vor allem von Aristoteles entworfene Ideal des theoreti-
schen Lebens. Vgl. NK 98, 11-23.
Daß dem „Typus des theoretischen Menschen“, seiner Daseinsform und
seiner geschichtlichen Erscheinung das besondere Interesse N.s in dieser Zeit
gilt, geht aus einer ganzen Reihe von Notizen seit dem Winter 1869/70 hervor.
Vgl. u. a. NL 1869/1870, KSA 7, 2[5], 46, 10-12: „Ungeheure Einwirkung der
Wissenschaft: für den OECüppTiKÖq mußte erst eine Lebensart geschaffen
werden: im ersten Griechenland war er unmöglich“. NL 1870/1871, KSA 7, 7[58],
151, 18-25: „Nothwendige Widersprüche im Denken, um leben zu können. Das
logische Denken mit der Sehnsucht zur Wissenschaft schafft eine neue
Daseinsform. / Das reine Denken sucht sich alles zu erklären und wirkt nicht
aktiv und umgestaltend. - Die Wissenschaft ist eine ppxavp des Willens, um
eine Masse Experimente und Neuerungen fern zu halten: der otvOpconoq
OECüppTiKÖq, als Feind der Künste der Mysterien, ist der Bewahrer des Alter-
thums“. NL 1869/1870, KSA 7, 3[60], 76, 24-77, 5: „Die Auflösung der noch
lebenden religiösen Empfindungen in’s Bereich der Kunst - dies das praktische
Ziel. Bewußte Vernichtung des Kriticismus der Kunst durch vermehrte Weihe
der Kunst. / Dies als Trieb des deutschen Idealismus nachzuweisen. Also:
Befreiung von dem Überherrschen des avOpconoq 0ECüpr(TiKÖq“. NL 1869/1870,
KSA 7, 3[94], 85, 21-23: „Die großen Idealisten: Pythagoras, Heraclit, Empedo-
cles, Plato. Der ävpp 0ECüpr(TiKÖq als Aufklärer und Auflöser der Natur und des
Instinktes. Poesie der Begriffe“.
98,11-23 Auch der theoretische Mensch hat ein unendliches Genügen am Vor-
handenen, wie der Künstler, und ist wie jener vor der praktischen Ethik des Pessi-
 
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