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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0321
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300 Die Geburt der Tragödie

mismus und vor seinen nur im Finsteren leuchtenden Lynkeusaugen, durch jenes
Genügen geschützt. Wenn nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahr-
heit immer nur mit verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt,
nach der Enthüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt sich der theoreti-
sche Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat sein höchstes Lustziel in dem
Prozess einer immer glücklichen, durch eigene Kraft gelingenden Enthüllung. Es
gäbe keine Wissenschaft, wenn ihr nur um jene eine nackte Göttin und um
nichts Anderes zu thun wäre.] Hier nimmt N. zunächst mehrere Schlüsselbe-
griffe aus der Partie der Nikomachischen Ethik auf, in der Aristoteles die theore-
tische Daseinsform charakterisiert und definiert (Buch X, Kapitel 7, 1177a-b).
Gerade das „Genügen“ zeichnet bei Aristoteles den theoretischen Menschen
positiv aus: als Autarkie, die ihn vollkommen unabhängig macht. Zunächst
erkennt Aristoteles der „Theorie“ (0Etüpia: „geistige Schau“) den höchsten
Rang zu, da sie sich von jedweder nach außen gerichteten praktischen Tätig-
keit als das Beständigere unterscheidet (©Etüpciv ydp öwotpcOot ovvExwq päA-
Aov q npötTTEiv ÖTioüv, 1177a 21-22), und er fährt fort: „Auch das, was man
Autarkie (avTÖpKEta = das Sich-selbst-Genügen, Unabhängigkeit) nennt, ist vor
allem bei der theoretischen Lebensform zu finden“ (q te Asyopsvq otVTÖtpKEia
nspi Tqv OstüpqTiKqv paAior' äv si'q, 1177a 27-28). Im Gegensatz zu allen ande-
ren könne sich „der Weise, auch wenn er ganz für sich ist, der Theorie hinge-
ben, und je weiser er ist, umso mehr. Vielleicht kann er es besser zusammen
mit andern, die mitwirken, dennoch aber ist er am meisten autark“ (ö öe oocpöq
Kai Ka0' aÜTÖv wv övvaTai Oscopsiv, Kai öaqj äv aocptüTspoq q, päAAov ßsÄTiov
ö' ’iatüq avvspyovq e\u)v, äAA' öpcoq avTapKEoraToq, 1177a 32-bl). Nachdrück-
lich unterscheidet Aristoteles von dieser Autarkie, diesem „Genügen“, die
bequeme Selbstzufriedenheit, indem er die „Theorie“ als die Tätigkeit einer
„Energie des Geistes“ (toü voü svspysia, 1177b 19) darstellt, die Muße (oxoAq)
voraussetzt und diese mit einem Lustgefühl (qöovq) verbindet, welches als
Glück (svöaipovia) erfahren wird. Von vornherein ist solche „Theorie“ als geis-
tige „Energie“ auf die arete hin orientiert - damit beginnt das 7. Kapitel im 10.
Buch der Nikomachischen Ethik.
N. macht aus dem „Genügen“ des „theoretischen Menschen“ etwas ganz
anderes: „ein unendliches Genügen am Vorhandenen“, sodaß er sich als theo-
retischer Mensch „durch jenes Genügen geschützt“ sieht. Dann aber bringt N.
die „Wahrheit“ ins Spiel, und nicht nur mit diesem Begriff selbst, sondern
noch mit einer - im 19. Jahrhundert bekannten - etymologischen Weiterung
durch die Vorstellungen der „Hülle“ und der „Enthüllung“: der griechische
Begriff der Wahrheit bedeutet exakt „Unverborgenheit“ = Unverhülltheit
(äAqOsia). Demnach erhebt N. den „theoretischen Menschen“ trotz des behaup-
teten Genügens am Vorhandenen zu einem Wahrheitssucher. Während der
 
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