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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0341
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320 Die Geburt der Tragödie

104, 8-18 hat Richard Wagner, zur Bekräftigung ihrer ewigen Wahrheit, seinen
Stempel gedrückt, wenn er im „Beethoven“ feststellt [...] die Erregung des
Gefallens an schönen Formen.] Paraphrase nach: Beethoven, GSD IX,
66.
104, 24-28 wodurch mir ein so befremdlich eigenthümlicher Blick in das Helle-
nische vergönnt war, dass es mir scheinen musste, als ob unsre so stolz sich
gebärdende classisch-hellenische Wissenschaft in der Hauptsache bis jetzt nur
an Schattenspielen und Aeusserlichkeiten sich zu weiden gewusst habe.] Mit die-
ser Feststellung beansprucht N. gegenüber den „bis jetzt“ gängigen wissen-
schaftlichen Behandlungen der griechischen Tragödie eine ganz ,eigene4 (das
Wort „eigentümlich“ hat hier noch diesen bis ins 19. Jahrhundert hinein allge-
mein verbreiteten Sinn) und neue Erkenntnis. Daß er damit vor allem auf die
bisher dominierende Orientierung an der Poetik des Aristoteles mit ihren Aus-
führungen zur Tragödie abzielt, geht schon aus den bisherigen Kapiteln hervor,
besonders deutlich aber aus einer Anmerkung, die er auf einem losen Blatt
gerade zu der hier zu erörternden Stelle verfaßte. Sie hat folgenden Wortlaut:
Insbesondere durfte ich mir jetzt vergönnen, einige Schritte zu thun, ohne daß der übrige
Fackelträger in der Höhle der griechischen Poetik, Aristoteles, mich begleitet hätte. Man
wird doch endlich einmal aufhören, ihn auch für die tieferen Probleme der griechischen
Poetik immer und immer wieder zu Rathe zu ziehn: während es doch nur darauf ankom-
men kann, aus der Erfahrung, aus der Natur die ewigen und einfachen, auch für die
Griechen gültigen Gesetze des künstlerischen Schaffens zu sammeln: als welche an jedem
leibhaften und ganzen Künstler besser und fruchtbarer zu studiren sind, als an jener
Nachteule der Minerva, Aristoteles, der selbst bereits dem großen künstlerischen Instinkte
entfremdet ist, welchen noch sein Lehrer Plato, wenigstens in seiner reifen Zeit, besaß,
der auch zu fern von den üppigen Entstehungsperioden der poetischen Urformen lebt,
um etwas von der drängenden Werdelust jener Zeiten zu spüren. Inzwischen hatte sich
bereits der fast gelehrte Imitationskünstler entwickelt, an dem das künstlerische Urphä-
nomen nicht mehr rein zu betrachten war. Was hätte Demokrit, der, mit der herrlichen
aristotelischen Beobachtungslust und Nüchternheit, in einer günstigeren Zeit lebte, über
solche Phänomene der Poetik, Mantik und Mystik uns berichten können! (KSA 14, 54)
Der Hauptgrund für die Ablehnung der Tragödientheorie, wie sie Aristoteles in
der Poetik formuliert, ist die marginale Bedeutung, die in ihr der Musik - dem
Chor - beigemessen wird, also dem „Dionysischen“, das für N. zentral ist.
In einem Fragment notiert er (NL 1870/1871/1872, KSA 7, 8[48], 241, 28): „Das
Dionysische erstirbt in der Tragödie (Aristoteles)“. Aristoteles weist der
Musik in einer Reihenfolge von sechs Elementen die letzte Stelle zu (1450a 7-
10): „Notwendigerweise also hat jede Tragödie sechs Bestandteile [...]: diese
sind der Mythos, die Charaktere, die sprachliche Darbietung, die Konzeption,
die Inszenierung und die melodische Gestaltung“ (äväyKp ouv näupg Tpq
 
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