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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0360
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Stellenkommentar GT 18, KSA 1, S. 117 339

Bericht einer amerikanischen Untersuchungskommission wörtlich wiedergege-
ben, in der die „Würde der Arbeit“ hervorgehoben und mehrmals das Los der
Arbeiter als dasjenige moderner „Sklaven“ (das N. ausdrücklich bejaht) ange-
prangert wird (S. 233 f.):
Das Comite [sic] war sicher mit Recht betreten bei der Wahrnehmung, daß inmitten
eines beispiellosen Wohlstandes, eines entschiedenen Fortschritts der Künste
und Wissenschaften, der Vervollkommnung aller Maschinen, welche die Arbeit vereinfa-
chen, inmitten aller möglichen neuen Erfindungen der Mensch, der Schöpfer, die
erste Ursache aller dieser Dinge, allein zurückgeblieben ist. Denn
eben der Wohlstand, dessen wir uns rühmen, und der sich auf Alle
erstrecken sollte, ist im Begriff aus den Arbeitern selbst Maschinen
zu machen, Menschen ohne Denken, ohne höheren Trieb, als wie er
auch dem Sklaven gestattet ist. Führen wir einfach die eigenen Worte eines
Arbeiters an, welcher sagte: ,Wir sind Sklaven, erschöpft von der Arbeit, abgenützt und
entkräftet, und da wir keine Zeit haben, Geist und Herz zu bilden, ist es überraschend,
daß wir herabgekommene, unwürdige Nichtswisser sind?“ Ein Anderer sagte: ,Ich habe
einen Sohn, den ich lieber im Sarge sehen würde als in einer Fabrik, um Alles zu leiden,
was ich gelitten habe, und mehr zu erdulden als ein Sklave in dieser verdorbenen und
erniedrigenden Umgebung“. Es war peinlich, von allen Denen, die uns aufzuklären bereit
waren, über die reißende Entsittlichung unseres Arbeiterstandes, der die Grundlage unse-
res nationalen Lebens bildet, das nämliche hören zu müssen; peinlich war es, einen
bestätigenden Blick thun zu müssen in das Herabgekommensein, in den
immer tieferen Ruin und Verfall des Menschengeschlechts, das doch
unvergänglich und unsterblich sein soll. Die männliche und stolze
Unabhängigkeit des Arbeiters von ehemals hat einer sklavischen und
feilen Gesinnung Platz gemacht; an die Stelle der Selbstachtung und
Intelligenz sind Mangel an Selbstvertrauen und wachsende Unwis-
senheit getreten, statt des ehrenwerthen Stolzes auf die Würde der
Arbeit hat das Gefühl völliger Unterordnung, statt des Triebes sich in
der Mechanik zu vervollkommnen, der Ekel an einer untergeordneten
Beschäftigung allgemein Platz gegriffen. Statt eines Adelsdiploms
haftet an der Arbeit das Brandmal der Sklaverei.
Die Mitglieder des Comite’s sind daher sehr überzeugt, daß wenn unsere Nation vor siche-
rem Unglück und Untergang bewahrt, wenn der industriellen Wissenschaft ihre prakti-
sche Anwendung gerettet, wenn der Gesundheit, dem Leben und der Sittlichkeit des Vol-
kes Rechnung getragen werden soll, wenn wir endlich unsern Nachkommen die kostbaren
Güter der Freiheit und der .Selbstregierung“ sichern und hinterlassen wollen, wir die
Wichtigkeit der Frage begreifen und ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen müssen - wenn
nicht aus Menschenliebe, so doch aus Eigennutz. Wehe dem Volk, dessen Reichthümer
steigen, und die Menschen sinken.
Wahrscheinlich unter dem Eindruck dieser Lektüre verurteilte N. in einer län-
geren Partie der Morgenröthe (Drittes Buch, Nr. 206, KSA 3, 183-185) ganz im
Gegensatz zu seinen sonstigen Plädoyers für die Sklaverei und die Ausbeutung
der Arbeiter diese Zustände als Schande der „Fabrik-Sclaverei“ und „unanstän-
 
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