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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0374
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Stellenkommentar GT 19, KSA 1, S. 127 353

mentar zu GT 19, S. 344), als kunstwidrig, weil dem „Geist der Musik“ nicht
adäquat zu erweisen. Da für N. der „Dämon“ der „aus unerschöpflichen Tie-
fen“, nämlich aus dem „dionysischen Grunde des deutschen Geistes“ empor-
steigende Dämon der „deutschen Musik“ ist, wird die Anspielung auf Goethes
negativen ,Dämon4 Mephisto inkongruent.
127, 22-27 Welches Schauspiel, wenn jetzt unsere Aesthetiker, mit dem Fang-
netz einer ihnen eignen „Schönheit“, nach dem vor ihnen mit unbegreiflichem
Leben sich tummelnden Musikgenius schlagen und haschen, unter Bewegungen,
die nach der ewigen Schönheit ebensowenig als nach dem Erhabenen beurtheilt
werden wollen.] Anspielung auf die zeitgenössischen Gegner Wagners, zu
denen auch der alsbald (127, 34) genannte Otto Jahn gehörte. Mit dem durch
Anführungszeichen hervorgehobenen Begriff der „Schönheit“ spielt N. auf den
bedeutendsten Wagner-Kritiker an, der zugleich der führende Musik-Kritiker
des 19. Jahrhunderts war (Giuseppe Verdi nannte ihn den „Bismarck der Musik-
kritik“): auf Eduard Hanslick (1825-1904), der erstmals 1854 seine Schrift Vom
Musikalisch-Schönen veröffentlicht hatte, die dann über Jahrzehnte hinweg in
immer neuen Auflagen erschien und bis heute als ein Klassiker musikästheti-
schen Denkens gilt. N. besaß dieses Werk in der dritten Auflage (1865) in seiner
persönlichen Bibliothek und studierte es, wie die Randbemerkungen und Lese-
spuren zeigen. N., der schon im ersten Satz seiner Tragödienschrift auf die
„aesthetische Wissenschaft“ eingeht, dürfte Hanslick von Anfang an, freilich
ohne ihn je zu nennen, als Wagner-Gegner ins Visier genommen haben, dem
er seine eigene, weitgehend von Wagner inspirierte ästhetische Theorie entge-
genstellt. In einem nachgelassenen Notat aus dem Jahr 1871 bemängelt N.,
daß Hanslick seine Vorstellung von „Schönheit“ nicht auf empfindungsstarkes
Pathos gründe (in diesem Sinne verwendet N. den Begriff „pathologisch“
durchaus positiv), sondern auf Formales beschränke: auf die reine Form. Die
Musik als „die subjektivste Kunst“ sei „rein pathologisch, soweit sie nicht reine
unpathologische Form ist. Als Form ist sie der Arabeske am nächsten ver-
wandt. Dies der Standpunkt Hanslicks. Die Kompositionen, bei denen die
,unpathologisch wirkende Form4 überwiegt, besonders Mendelssohn’s,
erhalten dadurch einen classischen Werth“ (NL 1871, KSA 7, 9[98], 310, 11-16).
Pointiert bemerkt er in einem anderen Notat des Jahres 1871: „Hanslick: findet
den Inhalt nicht und meint es gebe nur Form“ (NL 1871, KSA 7, 9[8], 273,16-17).
Ebenfalls auf die „Form“ konzentriert sich das Kunstverständnis eines anderen
Ästhetikers, den N. zur Kenntnis nahm: Er besaß in seiner persönlichen Biblio-
thek die Studien und Kritiken zur Philosophie und Aesthetik (Bd. 1) von Robert
Zimmermann (Wien 1870). Dieser hatte eine Geschichte der Aesthetik verfaßt
und bemerkt dazu in einem Kapitel der genannten Aufsatzsammlung (,lieber
Lotze‘s Kritik der formalistischen Aesthetik4), S. 371: „Das Resultat meiner
 
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