Metadaten

Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0378
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar GT 19, KSA 1, S. 128 357

8-270, 9 und 286, 13-287, 28. Er entfaltet diese Wunschvorstellungen im
Zusammenhang mit seiner Charakterisierung der „kritischen Historie“. Trotz
der Affinität des über Vergangenheit und moderne Kultur richtenden „Rich-
ters“ zum „Kritiker“ wertet N. letzteren entschieden ab (284, 32-285, 19).
Gegenüber der Vorstellung vom „Kritiker“, den er im Gefolge Wagners als
sekundär, unschöpferisch und daher inkompetent begreift, verleiht er dem
„Richter“ ein eschatologisches Pathos und schreibt ihm fundamentale „Tugen-
den“ zu: „Gerechtigkeit“ und „Wahrheit“ (286, 8-287, 25). Zugleich aber weist
er, mit Anspielungen auf Ranke, den Anspruch auf „Objektivität“ in der
Geschichtsschreibung zurück, da er ihn für nicht einlösbar hält.
128, 8-10 Erinnern wir uns sodann, wie [...] durch Kant und Schopenhauer]
Rückgriff auf GT 18: 118, 4 ff.
128, 22 alle jene Uebergänge und Kämpfe] Vgl. den Schluß von GT 15; 102, 18.
128, 27-33 Dabei lebt in uns die Empfindung, als ob die Geburt eines tragi-
schen Zeitalters für den deutschen Geist nur eine Rückkehr zu sich selbst, ein
seliges Sichwiederfinden zu bedeuten habe, nachdem für eine lange Zeit unge-
heure von aussen her eindringende Mächte den in hülfloser Barbarei der Form
dahinlebenden zu einer Knechtschaft unter ihrer Form gezwungen hatten.] Zum
„deutschen Geist“, den auch Wagner gerne beschwor, vgl. ferner 129, 12; 131,
18 sowie 153, 34-154, 13 und NK 153, 34. An der hier zu erörternden Stelle
nimmt N. ein kulturkritisch und zugleich national gefärbtes Grundmuster der
Sturm- und Drang-Zeit auf, das infolge der antifranzösischen Stimmung wäh-
rend des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 in anachronistischer Weise
wiederbelebt wurde (N. sagte sich davon jedoch schon bald los): Bis weit ins
18. Jahrhundert hinein dominierte die französische Kultur, die noch weitge-
hend eine höfische Kultur war, das deutsche Geistesleben, dem N. vor allem in
formaler Hinsicht eine deutliche Unterlegenheit bescheinigt („den in hülfloser
Barbarei der Form dahinlebenden [deutschen Geist] zu einer Knechtschaft
unter ihrer Form gezwungen hatten“). Herder und der junge Goethe hatten sich
gegen diese als Überfremdung empfundene französische Dominanz gewehrt:
Herder am deutlichsten in seiner Erstlingsschrift Über die Neuere deutsche Lit-
teratur (die beiden ersten Teile erschienen im Jahre 1766, der dritte Teil im
Frühjahr 1767), Goethe in seinem Aufsatz Von Deutscher Baukunst (1772). Her-
der hatte sich in seiner Schrift zuerst gegen die Vorherrschaft des Lateinischen
in der noch bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts weitgehend lateinisch verfaßten
gelehrten Literatur ausgesprochen. Dagegen konnte sich N. nicht gut wenden,
weil das im 19. Jahrhundert anachronistisch erschienen wäre: die Rolle des
Lateinischen war schon längst auf den gymnasialen Sprachunterricht und die
universitäre ,Klassische Philologie4 beschränkt. Nach dem Lateinischen hatte
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften