Metadaten

Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0379
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
358 Die Geburt der Tragödie

Herder in seiner Schrift die zweite große Entfremdungsmacht im geistigen
Leben Deutschlands während des 18. Jahrhunderts ins Visier genommen: das
Französische. Wenn es nicht auf Gelehrtheit, sondern auf Eleganz und
Geschmeidigkeit des Ausdrucks ankam, verwendete man allgemein das Fran-
zösische, das durch eine hohe höfische Kultur und die aus ihr entsprungene
Literatur sowohl an Ansehen wie an Verwendungsfähigkeit dem zurückgeblie-
benen Deutschen überlegen war. Noch im Jahre 1780 hatte Friedrich der Große,
wenngleich er damit lediglich ein Nachhutgefecht lieferte, seine Schrift De la
litterature allemande auf französisch geschrieben, und entsprechend fielen
auch seine literarischen Ratschläge aus. Direkt gegen die Schrift Friedrichs des
Großen hatte sich Justus Mösers Abhandlung Über die deutsche Sprache und
Litteratur gewandt (1781). N. war vor allem durch seine Herder-Lektüre beein-
druckt; aber auch Goethes im emotional aufgeladenen Sturm- und Drang-Stil
vorgetragene Attacke auf „Italiäner“ und „Franzosen“, überhaupt auf die „Wel-
schen“, in seinem Aufsatz Von Deutscher Baukunst findet ihr um hundert Jahre
verzögertes Echo bei N., wenn er die „Knechtschaft“ und „das Gängelband
einer romanischen Civilisation“ (129, 1; noch schärfer: 149, 16) ablehnt. Dieses
auf die eigene Zeit um 1870 bezogene Da capo („Jetzt endlich darf er, nach
seiner Heimkehr zum Urquell seines Wesens, vor allen Völkern kühn und frei,
ohne das Gängelband einer romanischen Civilisation, einherzuschreiten
wagen“) ist aber schon deshalb anachronistisch, weil zwischen 1770 und 1870
die deutsche Literatur, Philosophie und Musik mit Goethe, Schiller, Hölderlin
und Kleist, mit E. T. A. Hoffmann und den anderen Romantikern, mit Heine,
mit Kant und Hegel, sowie den großen Komponisten von Mozart und Beetho-
ven bis hin zu Schubert u. a. sich schon längst nicht mehr an einem fremden
„Gängelband“ oder gar in „Knechtschaft“ befand.
N. stand mit seinem anachronistischen Rückfall in die Attitüde des Sturm
und Drang, nicht zuletzt in dessen Genie-Kult, den er mit seiner durchgehen-
den Beschwörung des „Genius“ übernahm, durchaus in einer Zeitströmung,
die zum historischen Verständnis seiner Texte ebenso gehört wie die irrationa-
listische Kompensation des Epigonen-Traumas. Gottfried Keller satirisierte die-
ses Sturm- und Drang-Da capo schon in seiner Novelle Die mißbrauchten Lie-
besbriefe (in der von N. hochgeschätzten Sammlung Die Leute von Seldwyla)
und dann besonders im Anfangszyklus der Züricher Novellen, wo er den inzwi-
schen falschen und überständigen Rousseauismus mitsamt der Reinszenierung
des Geniekults aufs Korn nimmt und das aktuelle Epigonenproblem reflektiert,
aus dem diese kompensatorische Reaktion entsprang. Einer der bekanntesten
zeitgenössischen Publizisten, Karl Hillebrand, charakterisierte in seiner 1874
erschienenen Besprechung der zweiten von N.s Unzeitgemäßen Betrachtungen:
Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben N. selbst als einen der
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften