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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0386
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Stellenkommentar GT 20, KSA 1, S. 130 365

anderen Stationen war er seit 1858 Professor für Alte Geschichte in Berlin,
später mehrmals Mitglied des preußischen Landtags, des Reichstags (1881-
84), ein Gegner Bismarcks und des Antisemiten Treitschke. Daß sich N. als
Altertumsforscher entschieden politisch - wenn auch im Gegensinn - artiku-
lierte und in aktuelle Debatten eingriff, war also im 19. Jahrhundert nicht unge-
wöhnlich. Zu Mommsen notierte er: „Wer die römische Geschichte durch ekel-
hafte Beziehung auf klägliche moderne Parteistandpunkte und deren
ephemere Bildung lebendig macht, der versündigt sich noch mehr an der
Vergangenheit als der bloße Gelehrte, der alles todt und mumienhaft läßt. (So
ein in dieser Zeit oft genannter Historiker, Mommsen.)“ (NL 1872/1873, KSA 7,
19[196], 479, 21-26). Die Abneigung gegen Mommsen erklärt sich aus N.s entge-
gengesetztem „Parteistandpunkt“! Bis in die Kritik am „Parteistandpunkt“
hinein läßt sich N.s Anschluß an die Kritik seines Leipziger Lehrers Friedrich
Ritschi erkennen. Dies und der Anlaß - die Veröffentlichung eines mehrere
Jahre alten Briefs von Ritschi an Hortense Cornu, die Vertraute Napoleons III.,
in dem Ritschi seine Hochschätzung für die von Napoleon III. verfaßte Histoire
de Jules Cesar aussprach - sorgte in Deutschland für große Aufregung. In sei-
nem Brief an Hortense Cornu hatte Ritschi geschrieben: „ich zweifle nicht
daran, daß Mommsen’s römische Geschichte, diese kleinlich verbissene, einen
einseitigen Parteistandpunkt vertretende Darstellung, die seit einigen Jahren,
wenigstens in Deutschland, alle Gemüther gefangen genommen hat, sogleich
in den Hintergrund gedrängt werden wird durch die Arbeit eines Mannes, der,
während er die Geschicke der Welt regiert, den zugleich großartigsten und
unpartheiischsten Standpunkt einnimmt für die Würdigung eines antiken
Staatswesens, das in der Weltgeschichte nicht seines gleichen gehabt hat. Man
wird künftig nicht mehr Niebuhr’s oder Mommsen’s, sondern Napoleon’s römi-
sche Geschichte citiren ...“. Vgl. Ritschis Brief an N. vom 3. Mai 1871 (KGB II 2,
Nr. 182; dazu KGB II 7/1, S. 429-431). Ritschis negatives Urteil über Mommsen
war dadurch mitbedingt, daß sich Mommsen auf die Seite Otto Jahns schlug,
des Bonner Kollegen Ritschis, mit dem er in erbittertem Streit lag. Daß N. sich
in seiner Tragödienschrift sogar mit Namensnennung gegen Otto Jahn wandte
(127, 34), hat also nicht nur Jahns Kritik an Wagner als Grund, sondern auch
dessen Zwist mit seinem Lehrer Ritschi.
Zur „jetzigen gebildeten Geschichtsschreibung“, wenngleich nicht zu derje-
nigen, die sich mit dem „griechischen Alterthum“ befaßte, rechnet N. auch
Leopold von Ranke (1795-1886), der als größter deutscher Historiker galt und
ein Riesenwerk hinterließ, das 54 Bände umfaßt, darunter als bekannteste Ein-
zelwerke Die Römischen Päpste, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reforma-
tion, die Französische Geschichte und die Englische Geschichte. Hinzukommen
noch 9 Bände Weltgeschichte. Ranke gehört zu den großen Begründern der
 
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