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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0395
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37k Die Geburt der Tragödie

Bereich der entsetzlichen nächsten Wirkungen des Krieges der Betrachtung
meines Thema’s obzuliegen, ja ich erinnere mich, in einsamer Nacht mit Ver-
wundeten zusammen im Güterwagen liegend und zu deren Pflege bedienstet,
mit meinen Gedanken in den drei Abgründen der Tragoedie gewesen zu sein:
deren Namen lauten ,Wahn, Wille, Wehe“4.
132, 9f. von den Müttern des Seins] Wie schon in 103, 28 f. Anspielung auf
Fausts Abstieg zu den Müttern in der Szene Finstere Galerie des Faust II.
132,13-15 kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und wun-
dert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren Knien nie-
derlegen.] Vgl. die Erläuterung zu diesen Attributen des Dionysos und seines
Gefolges im Kommentar zu 29, 18-25. Indem N. hier einen Appell formuliert
(„kränzt euch [...] nehmt“), imaginiert er, daß sich die „Freunde“ (132, 10 f.),
d. h. Wagners Anhänger in Gefolgsleute des Dionysos und damit des ,dionysi-
schen4 Konzepts zur Erneuerung der Kultur verwandeln.
132,16-19 denn ihr sollt erlöst werden. [...] glaubt an die Wunder eures Gottes!]
Nachdem N. den „Glauben“ schon am Beginn der Schlußpartie beschworen
(131, 15) und in 132, 11 ausgerufen hatte: „glaubt mit mir an das dionysische
Leben“, intoniert er nun das abschließende Crescendo. Die emphatische Häu-
fung religiöser Vorstellungen wie Erlösung und Wunder - beides sind Lieb-
lingsvorstellungen Wagners in seinen theoretischen Schriften - markiert die
Ablösung der christlichen Jenseitsorientierung durch einen diesseitig-,dionysi-
schen4 Lebenskult. Zugleich knüpft N. an die Vorstellung von Dionysos als dem
„Lysios“ („Lyaeus“), d. h. (Er-)Löser an. „Erlösung“ war seit der Romantik,
seit Schopenhauer und dann verstärkt seit Wagner zum modischen Schlagwort
geworden. Ein wichtiges Kapitel im Zarathustra trägt den Titel Von der Erlö-
sung. Musil wird später diese mit Wagner und N. verbundene und im frühen
20. Jahrhundert epidemisch sich fortsetzende Mode in einem eigenen Kapitel
seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften (Nr. 108) satirisch aufs Korn neh-
men: Die unerlösten Nationen [eine Anspielung auf die sog. Jrredenta4] und
General Stumms Gedanken über die Wortgruppe Erlösen, wobei sich als erste
Erkenntnis herausstellt, daß das Wort „erlösen“, das man nun überall hören
könne, „zu der sprachwissenschaftlich nicht ganz durchleuchteten Gruppe der
,geschwollenen Worte4 gehöre“ (Robert Musil: Gesammelte Werke, hg. von
Adolf Frise, Bd. 1: Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg 1978,
S. 518).
21. und 22. Kapitel
In diesen Kapiteln wiederholt N. mit geringfügigen Variationen das schon bis-
her zur Tragödie, zum ,Dionysischen4 und zum „Mythus“ Gesagte, um schließ-
 
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