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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0398
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Stellenkommentar GT 21-22, KSA 1, S. 132-135 377

2-5. Der Gipfel solcher Erregung war der „Orgiasmus“ (133, 9). „Reinigend“
war die Tragödie aufgrund der Katharsis, die Aristoteles in seiner Poetik als
Hauptwirkung darstellt. „Entladend“ ist sie für N. - auch sonst verwendet er
immer wieder die Vorstellung der Entladung für die Wirkung der Tragödie -
im Sinne einer Dynamik, die sich eng mit der Katharsis verbindet. Diesen
Begriff der Entladung übernahm N. aus der Abhandlung von Jacob Bernays:
Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragö-
die, Breslau 1857 (Nachdruck Hildesheim 1970). Er entlieh diese Abhandlung
am 9. Mai 1871 aus der Universitätsbibliothek Basel. Am gleichen Tag lieh er
auch das Werk von Joseph Hubert Reinkens aus: Aristoteles über Kunst, beson-
ders über Tragödie. Exegetische und kritische Untersuchungen, Wien 1870. Darin
stellt der Verfasser die Abhandlung von Bernays als epochemachende for-
schungsgeschichtliche Zäsur für die Auffassung der Katharsis dar: Auf ein
Kapitel über die ,Katharsis-Wirkung der Tragödie bis auf Bernays4 folgt die Dar-
stellung von dessen Erklärung sowie der sich daran anschließenden literari-
schen Fehde. Bernays verstand die Aristotelische Katharsis nicht wie Lessing
(im 77. und 78. Stück der Hamburgischen Dramaturgie) als moralisches, son-
dern primär als medizinisch-therapeutisches Phänomen. Der Gesichtspunkt,
so Bernays, sei „nicht der moralische so wenig wie der rein hedonische; es ist
ein pathologischer Gesichtspunkt“ (S. 141). Ein solcher „pathologischer“
Gesichtspunkt lag schon deshalb nahe, weil bereits Aristoteles in der berühm-
ten Stelle seiner Poetik von der „Katharsis derartiger Leidenszustände“ (tcüv
toiovtcüv naöripötTCüv, Kap. 6, 1449b) spricht. N. hält sich im Anschluß an die
hier zu erörternde Stelle gerade an diesen medizinisch-therapeutischen Aspekt
der Wirkung, die von der Tragödie ausgeht: „deren höchsten Werth wir erst
ahnen werden, wenn sie uns, wie bei den Griechen, als Inbegriff aller prophy-
laktischen Heilkräfte [...] entgegentritt“ (134, 5-9). Vgl. dagegen 142, 20-143, 5,
wo N. die Katharsis als „aesthetisches Spiel“ bezeichnet.
134,12-15 stellt dann aber den tragischen Mythus und den tragischen Helden
daneben, der dann, einem mächtigen Titanen gleich, die ganze dionysische Welt
auf seinen Rücken nimmt] Im Druckmanuskript der ersten Auflage (1872) steht:
„gleichsam als der Titan Atlas“. Vgl. GT 9, 70, 34-71, 3. Im Mythos trägt der
Titan Atlas das Himmelsgewölbe.
134,15-21 während sie andrerseits durch denselben tragischen Mythus, in der
Person des tragischen Helden, [...] an ein anderes Sein und an eine höhere Lust
erinnert, zu welcher der kämpfende Held durch seinen Untergang [...] vorberei-
tet.] Vgl. NK 108, 17-22, sowie 135, 1-4.
135, 18 Gervinus] Georg Gottfried Gervinus (1805-1871), Literaturhistoriker,
der die Literatur im Zusammenhang mit der geschichtlichen Entwicklung sah,
 
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