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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0403
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382 Die Geburt der Tragödie

einer üppigen Gottheit der individuatio“ meint das dynamisch-kraftvolle und
insofern „üppige“ schöpferische Potential (in traditioneller Terminologie:
natura naturans), aufgrund dessen es dem Künstler möglich sei, individuelle
Gestalten (natura naturata) zu „schaffen“. Damit und mit der anschließenden
Wendung gegen die „Nachahmung der Natur“ adaptiert N. die seit der Ideologi-
sierung des „Genies“ durch die Sturm- und- Drang-Ästhetik gängige und vom
romantischen Phantasie-Kult noch intensivierte Ablösung der Nachahmungs-
ästhetik durch eine Schöpfungsästhetik.
141, 33 von dieser Rückkehr zur Urheimat] „Urheimat“ ist ein von Wagner
geprägter Ausdruck. Er liebte die Rückführung auf Urzustände und Urtypen.
Indem N. hier wie auch im unmittelbar vorausgehenden Satz, wo von der
„Urfreude“ und dem „Ur-Einen“ die Rede ist, diese Wagner-Anklänge anläßlich
seiner Darstellung der Oper Tristan und Isolde sucht, schlüpft er selbst in die
Rolle des idealen „ästhetischen Zuhörers“, der sich ganz, bis zur Identifikation,
in den „Künstler“ einfühlt. Vgl. NK 141, 25-29.
142,10 auf künstlerische Zustände, auf eine aesthetische Thätigkeit] Diese Leit-
kategorie der folgenden, bis zum Schluß des Kapitels reichenden Ausführun-
gen übernahm N. aus dem alsbald zitierten Brief Goethes an Schiller vom
9.12.1797: 142, 23-30.
142, 20-23 Jene pathologische Entladung, die Katharsis des Aristoteles, von
der die Philologen nicht recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die
moralischen Phänomene zu rechnen sei] Zur „pathologischen Entladung“, zur
Katharsis und zu N.s philologischer Quelle (Bernays) vgl. NK 134, 3f.
142, 23 eine merkwürdige Ahnung Goethe’s.] Das folgende Zitat stammt aus
dem Brief Goethes an Schiller vom 9.12.1797.
143, 2-5 Wer [...] über den pathologisch-moralischen Process sich nicht hinaus-
gehoben fühlt] Anspielung auf Jacob Bernays, der die aristotelische Katharsis
nach Kriterien der Pathologie erklärt hatte. N. stimmte dem im Prinzip zu (vgl.
NK 134, 3 f.), sucht aber hier nach einem noch darüber „hinaus“gehenden
ästhetischen Bewertungsmaßstab. Das Wort „Process“ meint den Vorgang der
Katharsis, in dessen Verlauf sich die reinigende Wirkung entfaltet.
143, 6 f. die Interpretation Shakespeare’s nach der Manier des Gervinus] Gervi-
nus: Shakespeare, 2 Bände, Leipzig 1849-1850. Zu Gervinus vgl. auch NK 135,
18.

143, 12 f. der „Kritiker“] Die sich bis zum Ende dieses Kapitels fortsetzende
Polemik gegen die „Kritiker“, die in der Vorstellung der „kritischen Barbaren“
gipfelt (144, 26), nimmt ein im Sturm und Drang beliebtes Thema auf: die
 
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