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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0406
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Stellenkommentar GT 21-22, KSA 1, S. 143-144 385

irgend einer Ansicht von der Sache, in der er nicht mit künstlerischem In-
stinkte empfindet, sondern über die er mit bloß ästhetischer Willkür Meinun-
gen äußert, an deren Geltendmachung ihm vom Standpunkte der abstrakten
Wissenschaft aus liegt“. In Wagners Schrift Eine Mittheilung an meine Freunde
heißt es (GSD IV, 233): „Aber gerade auch dieses Verständniß kann, der Natur
jeder künstlerischen Absicht nach, nicht mit dem reinen Verstände, son-
dern nur mit dem Gefühle gefaßt werden, und zwar mit einem mehr oder
weniger künstlerisch gebildeten Gefühle, wie es nur Denen zu eigen sein
kann, die [...] mit dem Künstler [...] sympathisiren [...] Dieß können offenbar
nur die wirklich liebenden Freunde sein, nicht aber der absichtlich fern von
ihm sich ab stellende Kritiker. Blickt der absolute [d. h.: der,losgelöste4, abseits
stehende] Kritiker von seinem Standpunkte aus auf den Künstler, so sieht er
geradesweges gar nichts.“
143, 26 und der Anruf der „sittlichen Weltordnung“ trat vikarirend ein] Das
Wort „vikarirend“ ist eine ungewöhnliche Ableitung von „Vikar“. Ein Vikar ist
der Stellvertreter oder Gehilfe des hauptamtlichen Inhabers eines Kirchenam-
tes, ein Theologe, der nach dem Examen einem Pfarrer zur praktischen Ausbil-
dung zugewiesen wird.
144, 2 Cultus der Tendenz] „Tendenz“ ist in diesem Abschnitt ein Reizwort
(143, 29; 144, 4; 144, 5) und steht mit den Stichwörtern „Kritiker“, „Journalist“
(144, 9), „Presse“ (144, 9) in Zusammenhang. Den historisch aktuellen Kontext
bildet das Aufkommen eines modernen Zeitungswesens im 19. Jahrhundert
infolge des gesellschaftlichen Wandels und auch infolge neuer technischer Ver-
fahren. Damit verband sich ein Bedeutungszuwachs der „Presse“ sowie des
Journalisten-Berufs: Erstmals bot sich die Chance, öffentliche Meinungsbil-
dung in großem Maßstab zu betreiben, auch wenn die Zensur den Spielraum
einengte. Zugleich entstand aus dem historischen Widerstreit zwischen libera-
len und demokratischen Bestrebungen einerseits, die in den Revolutionen von
1789, 1830 und 1848 ihre Höhepunkte erreichten, und der restaurativen Reak-
tion andererseits eine politische Dauerkonfrontation auch im publizistischen
Bereich. Daraus entwickelte sich, besonders seit der Juli-Revolution von 1830,
eine ausgeprägte Tendenzschriftstellerei und ein engagiert parteiergreifender
Journalismus.
Selbst der Ausdruck „Cultus der Tendenz“ war schon da. In einem 1853
verfaßten, diagnostisch durchgreifenden Artikel Hermann Marggraffs, der auch
die Zeitungen und Zeitschriften seit 1830 mustert, heißt es (mit den antijüdi-
schen Akzenten, die auch N. in seiner Polemik gegen die Journalisten und die
Presse setzt):
Dies führt uns von selbst auf den Zustand der belletristischen Journalistik, wie er sich
unter den Einflüssen des Jahres 1830 gestaltete. Der belletristischen Presse genügte die
 
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