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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0417
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396 Die Geburt der Tragödie

147, 6-8 dieser Choral Luther’s, als der erste dionysische Lockruf, der aus dicht-
verwachsenem Gebüsch, im Nahen des Frühlings, hervordringt.] Das 19. Jahrhun-
dert erhob Luther wie Dürer (vgl. 131, 24-30) zu einer nationalkulturellen Leitfi-
gur. Im Zuge der nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts wurde in Europa
fast überall das kulturelle Erbe ,nationalisiert4. Mit dem „Lockruf, der aus dicht-
verwachsenem Gebüsch“ frühlingshaft hervordringt, spielt N. auf Hans Sachs
(1494-1576) an, den bekanntesten Meistersinger, der in Nürnberg lebte und als
Anhänger der Reformation in der Gedicht-Epistel Die Wittenbergisch Nachtigall
(1523) Luther „allen liebhabern Ewangelischer warhait“ ans Herz legte (Hans
Sachs: Die Wittenbergisch Nachtigall, hg. von Gerald Seufert, Stuttgart 1974,
S. 13-15). Zugleich schlägt N. mit dieser Anspielung die Brücke zu Wagners Oper
Die Meistersinger von Nürnberg (Uraufführung am 21. Juni 1868 in München),
in der die Opernfigur Hans Sachs eine Hauptrolle spielt. Wagner hatte in der
zweibändigen Hans Sachs-Ausgabe mit der Übersetzung von Johann Gustav
Büsching das Lied von der „Wittenbergisch Nachtigall“ gefunden und im „Wach
auf!“-Chor seines Musikdramas adaptiert. N. zitiert bereits in GT 1 (26, 15-20)
Wagners Hans Sachs. Auch mit der Wendung „im Nahen des Frühlings“ spielt
er auf Wagners Meistersinger an: auf die Lieder „Fanget an! So rief der Lenz in
den Wald“ (1. Akt) und auf den sog. Fliedermonolog „Was duftet noch der
Flieder“ (2. Akt). Schon kurz nach der ersten persönlichen Begegnung mit Wag-
ner in Leipzig hatte N. im Januar 1869 eine Meistersinger-Aufführung in Dresden
besucht, wie aus einem Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche vom
17.1.1869 hervorgeht (KSB 2, Nr. 609, S. 361). An den Freund Erwin Rohde schrieb
er am 22. und 28. Februar 1869: „Ich habe Dir noch nichts erzählt von der
ersten Meistersingeraufführung in Dresden, von dieser größten künstlerischen
Schwelgerei, die mir dieser Winter gebracht hat“ (KSB 2, Nr. 625, S. 378, Z. 59
u. S. 379, Z. 62). Am 20. April desselben Jahres, kurz nach der Ankunft in Basel,
berichtet er Mutter und Schwester von einer noch unterwegs in Karlsruhe
besuchten Meistersinger-Aufführung und spricht von einer „vortrefflichen Auf-
führung dieser meiner Lieblingsoper“ (KSB 3, Nr. 1, S. 4, Z. 25 f.). Das altdeut-
sche Kolorit, das auch für Wagners Oper charakteristisch ist, hatte schon der
junge Goethe seinem Gedicht Erklärung eines alten Holzschnittes, vorstehend
Hans Sachsens poetische Sendung verliehen.
147, 9f. jener weihevoll übermüthige Festzug dionysischer Schwärmer, denen
wir die deutsche Musik danken] Zu dieser Vereinnahmung der „deutschen“
Musik für das ,Dionysische4 vgl. 127, 6-14.
147, Uf. die Wiedergeburt des deutschen Mythus] Hier ist Wagner
gemeint. Vgl. den Überblickskommentar zu GT 23-25, S. 389-391.
147, 30-34 Bis dahin waren die Griechen unwillkürlich genöthigt, alles Erlebte
sofort an ihre Mythen anzuknüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begrei-
 
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