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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0419
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398 Die Geburt der Tragödie

148, 25 Graeculus] „Griechlein“, schon eingebürgerte Bezeichnung für den
epigonalen Typus des alexandrinischen Gelehrten.
148, 28-31 Diesem Zustande haben wir uns, seit der Wiedererweckung des
alexandrinisch-römischen Alterthums im fünfzehnten Jahrhundert, nach einem
langen schwer zu beschreibenden Zwischenacte, in der auffälligsten Weise ange-
nähert.] N. sieht hier die Zeit des Humanismus und der Renaissance („Wieder-
erweckung“) ganz im Zeichen eines spätzeitlich-„alexandrinischen“ Stadiums
wie schon das „römische Alterthum“, dem er keine eigene kreative Leistung
zubilligt. Der schwer zu beschreibende „Zwischenact“ ist nicht, wie in her-
kömmlicher Sicht, das Mittelalter, das im alten Wortsinn als eine Zeit in der
,Mitte4 „zwischen“ den Zeiten aufgefaßt wurde, vielmehr meint N. die Zeit zwi-
schen der Renaissance und der eigenen Zeit. Diese für die europäische Neuzeit
konstitutive Epoche, in der sich der moderne Machtstaat herausbildete, die
moderne Naturwissenschaft entstand, die Aufklärung und die Französische
Revolution ihre weitreichenden Wirkungen entfalteten und sich auch die von
N. sonst hochgehaltene deutsche Kultur in den Jahrzehnten um 1800 aus-
prägte, läßt er in einem „Zwischenact“ verschwinden. Er wollte mit Wagner
einen epochalen Neu-Anfang markieren.
148, 31-149, 2 dieselbe überreiche Wissenslust, dasselbe ungesättigte Finder-
glück, dieselbe ungeheure Verweltlichung, daneben ein heimatloses Herum-
schweifen, ein gieriges Sichdrängen an fremde Tische, eine leichtsinnige Vergötte-
rung der Gegenwart oder stumpf betäubte Abkehr, Alles sub specie saeculi, der
„Jetztzeit“] N. bündelt die Analogien zwischen der „alexandrinischen“ Kultur
der späteren Antike und dem als ebenso alexandrinisch empfundenen späte-
ren 19. Jahrhundert. Das schon mit dem Begriff „Sokratismus“ gemeinte Phä-
nomen der Verwissenschaftlichung („Wissenslust“) steht allem voran; als
„ungeheure Verweltlichung“ versteht N. den bei den Römern ausgeprägten
Pragmatismus und die billige Massen-Befriedigung nach der Losung „panem et
circenses“ („Brot und Spiele“), sowie die im 19. Jahrhundert sich ausbreitende
säkularisierte, schließlich in Utilitarismus, Realismus und Naturalismus mün-
dende Geisteshaltung. Das „heimatlose Herumschweifen“ in der Moderne ist
für N. der Gegenpol zur mehrmals beschworenen „mythischen Heimat“ und
im Hellenismus sowie bei den Römern ein schon bis zum Kultur-Tourismus
reichendes Phänomen, das sich in einer entsprechenden Reiseliteratur nieder-
schlug; die „leichtsinnige Vergötterung der Gegenwart“ zielt auf den in Rom
florierenden verflachten Epikureismus, dessen Losung „carpe diem“ („Genieße
den Augenblick“) lautete, in N.s Zeit meint sie einen gegenwartsfreudigen Opti-
mismus, gegen den er mit einem von Schopenhauers Pessimismus grundierten
tragischen Lebensgefühl opponiert und als dessen typischen Vertreter er David
 
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