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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0053
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Überblickskommentar, Kapitel 1.4: Selbstaussagen Nietzsches 27

Etymologie des Begriffs ,Duell4 lässt allerdings erkennen, dass er einen Kampf
von zwei Personen meint und als Bezeichnung für die einseitige Attacke N.s
auf Strauß folglich unangemessen ist. Im Rückblick auf seine vier Unzeitgemäs-
sen Betrachtungen erinnert N. mit besonderem Nachdruck an die Resonanz von
UBI DS: „Von diesen vier Attentaten hatte das erste einen ausserordentlichen
Erfolg. Der Lärm, den es hervorrief, war in jedem Sinne prachtvoll“ (KSA 6,
317, 7-9). Dabei beruft er sich auf einen Rezensenten, den Göttinger Theologen
Heinrich Ewald, der bereits „zu verstehn gab“, sein „Attentat sei für Strauss
tödtlich abgelaufen“ (KSA 6, 317, 27-28). - Dass die emphatische Erfolgssugges-
tion, die N. in Ecce homo aus strategischen Gründen betreibt, einer genaueren
Prüfung nicht standhält, weil sie mit der heftigen Polemik schwerlich kompati-
bel ist, die UB I DS in etlichen Rezensionen auslöste, dokumentieren die aus-
führlichen Darlegungen in Kapitel 1.5 des Überblickskommentars zu UB I DS.
Nicht ohne Zynismus äußert sich N. in einem nachgelassenen Notat von
1885 über seine Polemik gegen David Friedrich Strauß, die er hier auf proble-
matische Weise sogar mit den angeblich unvermeidlichen Rahmenbedingun-
gen eines Krieges zu rechtfertigen versucht: „ - ich lachte ein armes anmaaßli-
ches moderiges Buch öffentlich zu Tode, in das sich die ,deutsche Bildung4
vernarrt hatte, - nun, man kann auf Erden noch manchen gefährlicheren
Gebrauch von seinem Gelächter machen! Vielleicht habe ich selbst unverse-
hens dabei einen alten Mann, den alten würdigen David Strauß, virum optime
meritum, ,umgebracht4? - man giebt es mir zu verstehen. Aber so bringt es
Krieg und Sieg mit sich; und ich will mit gutem Gewissen noch ganz andre
Menschenleben einmal ,auf dem Gewissen4 haben! Nur die Weiber fort, auch
die männlichen Klage-Weiber und Zärtlinge! Das versteht nichts vom Kriegs-
Handwerke und jammert sich halbtodt über jeden ,Mangel an Schonung4“
(NL 1885, 41 [14], KSA 11, 689).
Einen diametralen Gegensatz zu dieser Einschätzung bildet die selbstkriti-
sche Reflexion, die N. ursprünglich für die Vorrede zur Morgenröthe vorgese-
hen hatte: Hier bereut N. im Rückblick den „Fanatismus“, der - wie er nun
erkennt - sein gesamtes Frühwerk vergiftet habe. Das aus dem Frühjahr 1880
stammende nachgelassene Notat lautet folgendermaßen: „Als ich jüngst den
Versuch machte, meine älteren Schriften, die ich vergessen hatte, kennen zu
lernen, erschrak ich über ein gemeinsames Merkmal derselben: sie sprechen
die Sprache des Fanatismus. Fast überall, wo in ihnen die Rede auf Andersden-
kende kommt, macht sich jene blutige Art zu lästern und jene Begeisterung in
der Bosheit bemerklich, welche die Abzeichen des Fanatismus sind, - häßliche
Abzeichen, um derentwegen ich diese Schriften zu Ende zu lesen nicht ausge-
halten hätte, wäre der Verfasser mir nur etwas weniger bekannt gewesen. Der
Fanatismus verdirbt den Charakter, den Geschmack und zuletzt auch die Ge-
 
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