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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0073
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Überblickskommentar, Kapitel 1.5: Rezeption 47

Vielzahl kritischer Artikel, nicht nur in der Schweiz. Einige Kritiker wie Wila-
mowitz oder der mit b.f. zeichnende Verfasser des Grenzbotenartikels schreck-
ten vor drastischen Aussagen nicht zurück, die Nietzsche durchaus kränkten.
Aufgrund dieser Erfahrungen reagierte er auf die Artikel immer desillusionier-
ter. Er scheute die inhaltliche Auseinandersetzung, genauso wie er dazu neig-
te, die Reaktionen der Freunde zu seinen Gunsten auszulegen. Besonders deut-
lich zeigt sich dies an den Reaktionen Jacob Burckhardts, der seine Meinungen
über Nietzsches Bücher schönfärberisch umschrieb, um den ihn verehrenden
Nietzsche nicht zu brüskieren“ (Hauke Reich 2013, 11-12). Im obigen zweiten
Satz bezieht sich Reich auf die kritischen Reaktionen des Altphilologen Ulrich
von Wilamowitz-Moellendorff, der N.s Erstlingsschrift Die Geburt der Tragödie
vernichtend rezensiert und N.s altphilologische Reputation dadurch ruiniert
hatte (vgl. dazu Jochen Schmidt in NK 1/1, 75-76).
Vierzehn Jahre nach der Publikation von UBI DS formuliert N. selbst ein
resignatives Gesamturteil über die Rezensionen zu seinen Werken, wenn er
Heinrich Köselitz am 7. März 1887 in einem Brief mitteilt: „welcher Verleger
dürfte nicht etwas furchtsam sein, nachdem er sich ungeschickter Weise mit
meiner Litteratur beschwert hat? Ich habe es noch nicht einmal zu W i d e r s a -
ehern gebracht; seit 15 Jahren ist überhaupt über keines meiner Bücher eine
tief gemeinte, gründliche, sach- und fachgemäße Recension erschienen - kurz,
man muß dem Fritzsch Einiges zu Gute halten“ (KSB 8, Nr. 814, S. 40).
Ein Jahrzehnt später, mithin acht Jahre nach N.s geistigem Zusammen-
bruch und drei Jahre vor seinem Tod, also bereits in der Zeit der N.-Konjunktur,
geht Gerhart Hauptmann am 6. August 1897 im Tagebuch ausführlich auf N.s
Konzept des Bildungsphilisters in UB I DS ein (zuvor war 1893 die 2. Auflage
von UB I-IV erschienen): „Nietzsche, ,Unzeitgem[äße] Betracht[ungen]‘, 1888
[sic], sagt vom Bildungsphilister, er sei ,das Hindernis aller Kräftigen und
Schaffenden, das Labyrinth aller Zweifelnden und Verirrten, [...] die ausdorren-
de Sandwüste des suchenden und nach neuem Leben lechzenden deutschen
Geistes/“ (Gerhart Hauptmann 1987, 39.) Unter Rekurs auf diese Textpartie
(166, 34 - 167, 5) identifiziert sich Hauptmann mit N.s Identität als „Suchen-
der“, grenzt sich zugleich allerdings insofern von ihm und seiner prononcier-
ten Kulturkritik ab, als er selbst „einen Weg zum Ziele“ zu gehen glaubt, „ins
,Leben des deutschen Geistes4, das wirklich gar nicht mehr so daniederliegt“
(Hauptmann 1987, 39). Die Differenz zwischen seiner eigenen Position und der-
jenigen N.s erklärt sich Hauptmann in diesem Kontext so: „Ich argwöhne,
Nietzsche begriff Goethe nicht. Goethe als Einheit. Goethe als deutsche Not-
wendigkeit“ und konnte so den „Brunnen“ des „deutschen Geisteslebens“
nicht finden: „der deutschen Kultur“ (ebd., 39). Und nach einer Bezugnahme
auf N.s Konzept der Tragödie fährt Hauptmann fort: „Hätte Nietzsche Goethe
 
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