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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0076
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50 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Thomas Mann würdigt UB I DS emphatisch, wenn er 1947 in seinem Essay
Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung erklärt, N. sei „vor allem
ein großer Kritiker und Kultur-Philosoph“ gewesen, der seine spätere „Lehrbot-
schaft“ auch in den Unzeitgemässen Betrachtungen „bereits vollkommen und
fertig“ zum Ausdruck gebracht habe (Thomas Mann 1990, Bd. IX, 682, 685):
„Seine glänzende Diatribe gegen das altersschwache und vergnügte Buch des
Theologen David Strauß ,Der alte und der neue Glaube4 ist das unmittelbarste
Beispiel für diese Kritik eines Philisteriums der Saturiertheit, das den deut-
schen Geist aller Tiefe zu berauben droht. Und es hat etwas Erschütterndes,
wie schon hier der jugendliche Denker prophetische Blicke vorauswirft auf das
eigene Schicksal, das wie ein tragischer Lebensplan offen vor ihm zu liegen
scheint. Ich meine die Stelle, wo er die ethische Feigheit des vulgären Aufklä-
rers Strauß verhöhnt, der sich wohl hüte, aus seinem Darwinismus, aus dem
bellum omnium contra omnes und dem Vorrecht des Stärkeren Moralvorschrif-
ten für das Leben abzuleiten, sondern sich immer nur in kräftigen Ausfällen
gegen Pfaffen und Wunder gefalle, bei denen man den Philister für sich habe.
Er selbst, das weiß er in seiner Tiefe schon, wird das Äußerste tun und selbst
den Wahnwitz nicht scheuen, um den Philister gegen sich zu haben“ (ebd.,
687-688). Auch Max Scheier hält UB I DS für eine „Glänzende Streitschrift“
(vgl. dazu den Beleg auf S. 338 im vorliegenden Kommentarband).
Die Positionen der Forschung im Hinblick auf das Pamphlet gegen David
Friedrich Strauß, mit dem N. den Zyklus seiner Unzeitgemässen Betrachtungen
eröffnete, sind heterogen: Manche Forscher vertreten die Auffassung, UB I DS
könne durchaus Geltung als eine vollwertige Publikation N.s beanspruchen:
So bezeichnet Curt Paul Janz UB I DS als „eine gültige, echt Nietzschesche
Schrift“ (Janz 1978, Bd. 1, 536). Andere hingegen betrachten David Strauss der
Bekenner und der Schriftsteller als ein schwaches Werk oder sogar als die
schlechteste der vier Unzeitgemässen Betrachtungen. So erklärt Karl Pestaloz-
zi: „Es macht freilich die Schwäche dieser Schrift aus, daß Nietzsches eigenes
Konzept darin nur ganz nebenbei aufscheint, so daß sie, für sich betrachtet,
den Eindruck bloßer Destruktivität hinterläßt“ (vgl. Pestalozzi 1988, 105). Eine
besonders prononcierte Kritik formuliert bereits Giorgio Colli in seinem Nach-
wort zu KSA 1; hier wendet er sich sowohl gegen Strauß’ ANG als auch gegen
N.s UB I DS: Die „erste Unzeitgemässe Betrachtung: David Strauss, [ist] das
schwächste Werk, das Nietzsche je veröffentlicht hat, gerade wegen seiner
,Zeitgemäßheit4. Was schert uns heute, nach einem Jahrhundert, dieser farblo-
se Philister? Wie können wir dessen ,neuen Glauben4 ernst nehmen, gegen den
Nietzsche seine überflüssigen Blitze schleudert? Zwar fehlt es nicht an Glanz-
lichtern, die den späteren souveränen Polemiker ankündigen, aber insgesamt
ist hier auch Nietzsche schwerverdaulich - und nicht nur wegen der Unzuläng-
 
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