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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0145
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Stellenkommentar UB I DS 4, KSA 1, S. 176-178 119

4.
177, 15-20 „wir wissen: es hat edle, hat geistvolle Schwärmer gegeben, ein
Schwärmer kann anregen, erheben, kann auch historisch sehr nachhaltig wirken;
aber zum Lebensführer werden wir ihn nicht wählen wollen. Er wird uns auf Ab-
wege führen, wenn wir seinen Einfluss nicht unter die Controle der Vernunft stel-
len.“] N. zitiert hier mit leichten Abweichungen aus ANG 80, 10-16. - Vgl. N.s
Exzerpte aus ANG (KGWIII5/1), S. 351. - Zu berücksichtigen ist auch der kul-
turhistorische Horizont: Luther verwendete die Begriffe ,Schwärmer4 oder
Schwarmgeister4 pejorativ als Bezeichnungen für Radikalreformatoren, die er-
hebliche Distanz gegenüber der religiösen Orthodoxie zeigten. Später war der
Begriff Schwärmer4 insbesondere als Etikett für die Pietisten gebräuchlich. In
der Epoche der Aufklärung übten namhafte Autoren wie Lichtenberg, Wieland
und Kant explizit Kritik am Schwärmertum. Die ausgeprägten Vorbehalte auf-
klärerisch gesonnener Autoren gegenüber den Schwärmern waren primär da-
durch bedingt, dass sich diese nicht den Prinzipien der Vernunft verpflichtet
fühlten. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Mentalität der Schwär-
mer4 häufig unter den Spiritualismus4 subsumiert, dessen Vertreter gegenüber
kirchlichen Institutionen und Dogmen tendenziell kritisch eingestellt waren.
177, 26-27 Lichtenberg meint sogar: „es giebt Schwärmer ohne Fähigkeit, und
dann sind sie wirklich gefährliche Leute.“] Georg Christoph Lichtenberg (1742-
1799) zeigte sich durch seine naturwissenschaftlichen Schriften, seine philoso-
phisch oder psychologisch akzentuierten Aufsätze, vor allem aber durch seine
Aphorismen als ein besonders eigenwilliger Vertreter der Aufklärung. N.
schätzte Lichtenberg wegen seiner ironisch-pointierten Brillanz, die mitunter
auch in zynischer Virtuosität Ausdruck fand. Im vorliegenden Kontext zitiert
N. aus Lichtenbergs Sudelbüchern (F 598) nach der Lichtenberg-Edition, die
zu seiner persönlichen Bibliothek gehörte und zahlreiche Lesespuren aufweist
(Lichtenberg 1867, Bd. 1, 188). Hier erklärt Lichtenberg: „Es gibt Schwärmer
ohne Fähigkeit und dann sind sie würklich gefährliche Leute.44 - In N.s Nach-
lass-Notaten aus der Entstehungszeit von UB I DS finden sich mehrere Exzerpte
zu Lichtenberg (vgl. NL 1873, TI [12], KSA 7, 590 sowie NL 1873, TI [21], KSA 7,
592-593 und NL 1873, TI [25], KSA 7, 594). Zur Lichtenberg-Rezeption vgl. Mar-
tin Stingelin 1996.
178, 2-5 denn der christliche „Ausblick auf ein unsterbliches, himmlisches Le-
ben ist, sammt den anderen Tröstungen für den, der „nur mit einem Fusse“ auf
dem Straussischen Standpunkt steht, „unrettbar dahingefallen“] Hier zitiert N.
aus Strauß’ ANG 364, 2-13: „Gegen die Pein, die das Bewußtsein jener Flecken,
die Vorwürfe des Gewissens uns bereiten, bietet das Christenthum den Versöh-
 
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