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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0162
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136 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

der Grazien] Hier nimmt N. Signalwörter der anakreontischen Dichtung des
18. Jahrhunderts auf, die er polemisch auf David Friedrich Strauß bezieht und
zugleich - im Sinne von Klopstock und von Goethes Gedicht Wandrers Sturm-
lied - in einen Gegensatz zur emphatisch-,erhabenen4 Poesie bringt. Aus Goe-
thes Hymne Wandrers Sturmlied zitiert N. in nachgelassenen Notizen acht Verse
(NL 1871, 13 [1], KSA 7, 371), in denen von den „Feuerflügeln“ des schöpferi-
schen „Genius“ die Rede ist. Den enthusiastischen Sturm-und-Drang-Gestus
kontrastiert Goethe in seiner Hymne Wandrers Sturmlied mit der Anakreontik
als einer obsolet gewordenen und nunmehr überwundenen poetischen Form.
Dabei greift Goethe auch die in der Anakreontik des 18. Jahrhunderts beliebte
Vorstellung des ,Tändelns4 auf, indem er vom „tändelnden [...] Anakreon“
spricht (V. 91). - N. überträgt die Vorstellungen der spielerischen Leichtigkeit
sowie des ,Tändelns4 und des ,Scherzens4 aus dem anakreontischen Diskurs
des 18. Jahrhunderts auf David Friedrich Strauß. In welchem Maße N. dabei
die Anakreontik als Subtext nutzt, zeigt auch die mehrmalige Erwähnung der
„Grazien“ (186, 7,16, 26) und das Attribut,zärtlich4, das er ebenfalls mit Strauß
korreliert (vgl. 186, 3-4: „[...] ruft unser Magister mit zärtlichen Seufzern aus“).
In Goethes Gedicht Wandrers Sturmlied erscheint Anakreon „mit dem Tauben
Paar / In dem zärtlichen Arm“ (V. 88-89).
187, 3 „problematischer Produkte“] Auf dieselbe Textpassage in Strauß’ ANG
(359, 29 - 360, 6) bezieht sich N. bereits kurz zuvor (186, 2). Hier zieht Strauß
der dritten, sechsten und neunten Symphonie als - wie er meint - „problemati-
schen Producten“ Beethovens, die ihm selbst musikästhetisch zu radikal er-
scheinen, die Symphonien vor, in denen Beethoven „die herkömmliche Form
[...] nicht gesprengt und zerstört hat.“
187, 15-16 was Aristoteles von Plato sagt: „ihn auch nur zu loben, ist den
Schlechten nicht erlaubt.“] In N.s persönlicher Bibliothek befand sich Fried-
rich Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie von Thales bis auf die
Gegenwart (3 Bände, 1866-67). Der erste Teil dieser Philosophiegeschichte
trägt den Titel Das Alterthum und enthält das von N. (mit Abweichungen) zitier-
te Diktum: „Auch sind uns (bei Olympiodor. in Plat. Gorg. 166) einige Verse
aus einer Elegie des Aristoteles auf seinen früh verstorbenen Freund Eudemos
erhalten, worin er den Plato einen Mann nennt, den auch nur zu loben den
Schlechten nicht anstehe“ (Ueberweg: Grundriß der Geschichte der Philoso-
phie von Thales bis auf die Gegenwart, Bd. 1, 1867, 140).
187,18-20 man erlaubt ihm nicht nur, sich öffentlich vor den grössten und rein-
sten Erzeugnissen des germanischen Genius zu bekreuzigen] Die Formulierung
kann als implizite Reverenz N.s vor Richard Wagner und vor Ludwig van Beet-
hoven gelesen werden. Denn am Ende seiner Jubiläumsschrift Beethoven lässt
 
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