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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0180
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154 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Auch in UBIII SE schließt N. an Schopenhauers Konzeption der Vernei-
nung des Willens zum Leben, der Askese und des Heiligen an. Er betont die
„Sehnsucht [...] nach dem Heiligen“ (KSA 1, 358, 1-2) und erklärt: „so bedarf
die Natur zuletzt des Heiligen“ (KSA 1, 382, 23). Später jedoch distanziert sich
N. radikal von allen Tendenzen, die auf Resignation, Verneinung oder Askese
zielen: Im „Versuch einer Selbstkritik“, den er 1886 der Neuausgabe seiner Ge-
burt der Tragödie voranstellt, verwirft er den lebensverneinenden „Resigna-
tionismus“ (KSA 1, 20) in Schopenhauers Tragödientheorie unter den Prämis-
sen seines eigenen ,dionysischen4 Vitalismus. Insbesondere in der Dritten
Abhandlung seiner Schrift Zur Genealogie der Moral setzt sich N. unter dem
Titel „was bedeuten asketische Ideale?“ mit der Problematik einer Triebabtö-
tung durch Askese kritisch auseinander (KSA 5, 339-412). Zu den Divergenzen
zwischen den Konzepten des Tragischen bei Schopenhauer und N. vgl. Ney-
meyr 2011, 369-391 und 2014b, 290-293.
Die Tendenz des Urchristentums zu Verneinung und Askese, die Strauß
nach N.s Ansicht - dem obigen Lemma zufolge - in ANG unzulänglich erklärt,
hebt auch der mit N. befreundete Theologie-Professor Franz Overbeck in sei-
nem Werk Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie. Streit- und Frie-
densschrift (1873) hervor, das aufgrund von N.s und Wagners Engagement
ebenfalls im Verlag von Ernst Wilhelm Fritzsch publiziert wurde, und zwar im
selben Jahr wie N.s UB I DS (vgl. dazu N.s Dank an Wagner nach der erfolgrei-
chen Fürsprache bei Fritzsch: KSB 4, Nr. 309, S. 154). N. und Overbeck pflegten
während der Entstehungszeit dieser beiden Schriften einen intensiven intellek-
tuellen Austausch miteinander. Detailliert zur „Waffengenossenschaft“ von N.
und Overbeck vgl. Sommer 1997. (Zu biographischen Hintergründen und diver-
gierenden Standpunkten vgl. auch Kapitel 1.1 im Überblickskommentar.) -
Ähnlich wie N. in UB I DS wendet sich auch Overbeck in seiner Schrift Ueber
die Christlichkeit unserer heutigen Theologie gegen die von Strauß in ANG for-
mulierte Kritik an Schopenhauers Pessimismus und an seiner Ethik der Resig-
nation. Analog zu Schopenhauer und im Unterschied zu Strauß sieht Overbeck
das Christentum wesentlich durch das asketische Ideal bestimmt und insofern
durch Weltverneinung charakterisiert. Seines Erachtens hat die Theologie die-
sen ursprünglichen Charakter des Christentums beeinträchtigt und es dadurch
seinem eigentlichen Wesen entfremdet. Manche Thesen Overbecks, dessen
Buch-Manuskript N. während der Konzeption von UB I DS schon vorlag, anti-
zipiert bereits Schopenhauer, der in seinen Parerga und Paralipomena II
konstatiert: „Im Ganzen also geht, von den Wissenschaften fortwährend un-
terminirt, das Christenthum seinem Ende allmälig entgegen“ (PP II, Kap. 15,
§ 181, Hü 418). Vor diesem Hintergrund problematisiert Overbeck die zeitgenös-
sische Theologie, weil ihr die pessimistische Weltanschauung der Urchristen
 
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