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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0182
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156 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Zu Reimarus und den Hintergründen von Lessings Streit mit Goeze über die
sogenannten ,Reimarus-Fragmente‘ vgl. auch NK183, 14-18 und NK 231, 2-5.
Die Kritik an zentralen christlichen Dogmen, die David Friedrich Strauß formu-
lierte, war außerdem von Ernest Renan beeinflusst: Dessen Buch Vie de Jesus
(1863), das in deutscher Übersetzung unter dem Titel Das Leben Jesu erschien
(4. Aufl. 1864), war auch für N.s kritische Auseinandersetzung mit dem Chris-
tentum bedeutsam. - Im vorliegenden Kontext von UB I DS verfolgt N. die Stra-
tegie, den angeblichen Mut von David Friedrich Strauß ad absurdum zu füh-
ren. Das zeigt schon die einleitende Feststellung: „unser Philisterhäuptling ist
tapfer, ja tollkühn in Worten, überall wo er durch eine solche Tapferkeit seine
edlen ,Wir‘ zu ergötzen glauben darf“ (193, 15-17). Und kurz darauf attestiert
N. David Friedrich Strauß sogar eine habituell gewordene Position als „Stören-
fried von Beruf“, der sich „allmählich einen Muth von Beruf anerzogen“ habe,
mit dem sich allerdings „ganz vortrefflich natürliche Feigheit“ vertrage (194,
5- 8). - Darüber hinaus wird Strauß’ Gestus der Revolte gegen die etablierte
Theologie in seiner Radikalität auch dadurch relativiert, dass er sich in eine
bereits vorhandene Tradition der historischen Bibelkritik stellen und sie fort-
führen konnte. Darauf weist N. schon in seinen nachgelassenen Vorarbeiten
hin: „Es war frech von Strauß, das Leben Jesu dem deutschen Volke zu bieten
als ein Gegenstück zu dem viel größeren Renan: und gar Voltaire hätte er nicht
berühren dürfen“ (NL 1873, TI [1], KSA 7, 587).
193, 26 - 194,1 sein Bekenntniss „Es ist freilich ein missliebiges und undankba-
res Amt, der Welt gerade das zu sagen, was sie am wenigsten hören mag. [...]
Und eben dazu hat mich von jeher meine Gemüths- und Geistesart getrieben.“]
Hier zitiert N. aus Strauß’ ANG, Nachwort als Vorwort (12-13).
194, 2-4 doch bleibt es zweifelhaft, ob dieser Muth ein natürlicher und ur-
sprünglicher oder nicht vielmehr ein angelernter und künstlicher ist] Dass N.
selbst letzteres voraussetzt, zeigt der argumentative Duktus im vorliegenden
Kontext: Hier attestiert N. Strauß eine symptomatische Diskrepanz. Zwar gebär-
de er sich „tapfer, ja tollkühn in Worten“, nämlich „überall wo er durch eine
solche Tapferkeit seine edlen ,Wir‘ zu ergötzen glauben darf“ (193, 15-17), aber
die besondere Couragiertheit, die er seinen Lesern suggeriere, erweise sich als
bloße Attitüde. N. meint an der theoretischen Inkonsequenz und praktischen
Folgenlosigkeit von Strauß’ Konzepten sogar die „natürliche Feigheit“ (194, 7-
8) des Philisters ablesen zu können, der sich als bloßer „Held der Worte“ ge-
bärde (194,17-18). Nicht nur eine Selbstinszenierung aus Gefallsucht wirft ihm
N. vor; zugleich kritisiert er, dass Strauß seinen „aggressiven Worten“, die be-
reits alle „Energie“ absorbieren (194, 12-14), keine Taten folgen lasse und dass
die bloße heroische Attitüde bei ihm letztlich mit Feigheit einhergehe (vgl. 194,
6- 16).
 
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