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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0196
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170 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

eine Welt möglich, worin keine Krankheit, kein Schmerz und kein Tod wäre.
Denkt man sich ja doch den Himmel so. Von Prüfungszeit, von allmäliger Aus-
bildung zu reden, heißt sehr menschlich von Gott reden und ist bloßes Ge-
schwätz. Warum sollte es nicht Stufen von Geistern bis zu Gott hinauf geben,
und unsere Welt das Werk von einem sein können, der die Sache noch nicht
recht verstand, ein Versuch? ich meine unser Sonnensystem, oder unser ganzer
Nebelstern, der mit der Milchstraße aufhört. Vielleicht sind die Nebelsterne,
die Herschel gesehen hat, nichts als eingelieferte Probestücke, oder solche, an
denen noch gearbeitet wird. Wenn ich Krieg, Hunger, Armuth und Pestilenz
betrachte, so kann ich unmöglich glauben, daß Alles das Werk eines höchst
weisen Wesens sei; oder es muß einen von ihm unabhängigen Stoff gefunden
haben, von welchem es einigermaßen beschränkt wurde; so daß dieses nur
respective die beste Welt wäre, wie auch schon häufig gelehrt worden ist.“ - Im
Hintergrund von Lichtenbergs Reflexion steht hier die Theodizee-Problematik.
Während der Entstehungszeit von UB IDS legte N. zu Lichtenberg auch einige
Notate an: vgl. NL 1873, TI [5], KSA 7, 589 und NL 1873, TI [12], KSA 7, 590 sowie
NL 1873, TI [21], KSA 7, 592-593 und NL 1873, TI [25], KSA 7, 594.
199, 5 Deshalb lässt Strauss „linderndes Öl“ fließen] An früherer Stelle zitiert N.
die Perspektive von David Friedrich Strauß auf ein als Maschine vorgestelltes
Universum: „es bewegen sich in ihr nicht bloss unbarmherzige Räder, es er-
giesst sich auch linderndes Oel“ (188, 29-30). Die Metaphorik übernimmt N.
wörtlich aus Strauß’ ANG: „Dieses Gefühl des Preisgegebenseins ist zunächst
wirklich ein entsetzliches. Allein was hilft es, sich darüber eine Täuschung zu
machen? Unser Wunsch gestaltet die Welt nicht um, und unser Verstand zeigt
uns, daß sie in der That eine solche Maschine ist. Doch nicht allein eine solche.
Es bewegen sich in ihr nicht blos unbarmherzige Räder, es ergießt sich auch
linderndes Oel.“ Vgl. außerdem das ausführliche Zitat aus ANG 365, 1-17 in
NK 188, 29-30. In den Exzerpten aus ANG (KGWIII5/1, S. 355) notiert N.:
„Schmieröl“.
199,14-15 so muss denn doch die Hexe dran, nämlich die Metaphysik] N. zitiert
hier eine Aussage Mephistos aus Goethes Faust I. In der Szene „Hexenküche“
erklärt Mephisto im Dialog mit Faust: „So muß denn doch die Hexe dran“
(V. 2365). Mit diesen Worten empfiehlt er Faust den verjüngenden Zaubertrank,
den ihm die Hexe verabreichen soll, um seine Disposition zum Lebensgenuss,
vor allem zu erotischer Erfahrung, zu steigern. Nachdem Faust den von der
Hexe zubereiteten Zaubertrank zu sich genommen hat, schließt die Szene mit
Mephistos Worten: „Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, / Bald Helenen in
jedem Weibe“ (V. 2603-2604). Sie leiten zur Gretchen-Handlung über, die in
der nächsten Szene beginnt. - N. setzt „die Hexe“ hier als Metapher für die
nichtchristliche Metaphysik von David Friedrich Strauß ein.
 
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