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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0197
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Stellenkommentar UB I DS 7, KSA 1, S. 199 171

199, 20-25 Aus eben diesem Grunde ist dem Philister das Genie verhasst: denn
gerade dieses steht mit Recht im Rufe, Wunder zu thun; und höchst belehrend ist
es deshalb zu erkennen, weshalb an einer einzigen Stelle Strauss einmal sich zum
kecken Vertheidiger des Genies und überhaupt der aristokratischen Natur des
Geistes aufwirft.] Bereits in einem nachgelassenen Notat aus der Entstehungs-
zeit von UB I DS schreibt N. über Strauß: „Sein ,Aristokratismus der Natur4 ist
ganz inconsequent und angeschwindelt: er ist eben berühmt geworden“
(NL 1873, TI [23], KSA 7, 593). Den im vorliegenden Kontext zentralen Gegensatz
entfaltet N. zuvor schon im zweiten seiner nachgelassenen Vorträge Ueber die
Zukunft unserer Bildungsanstalten, indem er erklärt: „jene lauten Herolde des
Bildungsbedürfnisses verwandeln sich plötzlich, bei einer ernsten Besichti-
gung aus der Nähe, in eifrige, ja fanatische Gegner der wahren Bildung d.h.
derjenigen, welche an der aristokratischen Natur des Geistes festhält: denn im
Grunde meinen sie, als ihr Ziel, die Emancipation der Massen von der Herr-
schaft der großen Einzelnen, im Grunde streben sie darnach, die heiligste Ord-
nung im Reiche des Intellektes umzustürzen, die Dienstbarkeit der Masse, ih-
ren unterwürfigen Gehorsam, ihren Instinkt der Treue unter dem Scepter des
Genies“ (KSA 1, 698, 8-17).
Schon in der sogenannten ,Geniezeit4, also in der Sturm-und-Drang-Epo-
che, wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Opposition zwischen
dem Genie und dem bloßen Philister oder dem Gelehrten zu einem Topos. Auf
diese Tradition konnte später auch N. zurückgreifen, wenn er in UB I DS das
„Genie“ mit dem „Philister“ und in UB III SE die „Genie’s“ mit den „Gelehrten“
kontrastiert (KSA 1, 400, 1). In der Romantik gewann der Antagonismus zwi-
schen der Genialität des kreativen Künstlers und der banalen Existenzform des
Philisters noch an Bedeutung. N. schließt schon in seinem Frühwerk an diese
kultur- und ideengeschichtliche Tradition an und orientiert sich dabei vor al-
lem an Schopenhauer, der das Genie ebenfalls wiederholt mit dem Philister
kontrastiert. In der Welt als Wille und Vorstellung II stellt Schopenhauer der
„Kindlichkeit“ sowie „der Naivetät und erhabenen Einfalt, welche ein Grund-
zug des ächten Genies ist“, die „trockene Ernsthaftigkeit der Gewöhnlichen“
gegenüber, die sich mitunter als „eingefleischte Philister“ erweisen (WWVII,
Kap. 31, Hü 452-453). N. adaptierte die Genie-Vorstellung Schopenhauers vor
allem für UB III SE. Zur Thematik der Genialität bei Schopenhauer und N. vgl.
auch NK 358, 29-33 und NK 386, 21-22.
Bereits seit der Sturm-und-Drang-Zeit galt die naturhafte Veranlagung als
besonderes Charakteristikum des Genies. Diese Auffassung bestimmte auch die
Genie-Konzepte späterer Epochen (vgl. dazu Jochen Schmidts Geschichte des
Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945,
1985). - Kant definiert das Genie in seiner Kritik der Urteilskraft (§ 46) als „die
 
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