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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0198
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172 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

angeborne Gemüthsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die
Regel giebt“ (AA 5, 307). Schopenhauer stellt sich ebenfalls in diese Tradition,
wenn er in seiner Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie, auf die sich N. in
UB III SE zweimal beruft (KSA 1, 413, 418), auf dem Primat der „angeborenen
Talente“ insistiert (PP I, Hü 209). In der Welt als Wille und Vorstellung II formu-
liert Schopenhauer im Kapitel 31 „Vom Genie“ die folgende Definition: „Die
überwiegende Fähigkeit zu der [...] Erkenntnißweise, aus welcher alle ächten
Werke der Künste, der Poesie und selbst der Philosophie entspringen, ist es
eigentlich, die man mit dem Namen des Genies bezeichnet“ (WWVII, Kap. 31,
Hü 429-430). Nach seiner Überzeugung besteht das Genie „in einem abnormen
Uebermaaß des Intellekts, welches [...] auf das Allgemeine des Daseyns ver-
wendet wird; wodurch es alsdann dem Dienste des ganzen Menschenge-
schlechts obliegt“ (WWV II, Kap. 31, Hü 431). Neben der Philosophie versteht
Schopenhauer vor allem „die Kunst“ als „das Werk des Genius“, und zwar
als „bildende Kunst, Poesie oder Musik“: „Sie wiederholt die durch reine Kon-
templation aufgefaßten ewigen Ideen, das Wesentliche und Bleibende aller Er-
scheinungen der Welt“ (WWV I, § 36, Hü 217). Die „Idee“ wird „nur aus dem
Leben selbst, aus der Natur, aus der Welt geschöpft, und auch nur von dem
ächten Genius, oder von dem für den Augenblick bis zur Genialität Begeister-
ten“ (WWV I, §49, Hü 277). Da „die (Platonischen) Ideen [...] nur anschau-
lich aufgefaßt werden; so muß das Wesen des Genies in der Vollkommenheit
und Energie der anschauenden Erkenntniß liegen“ (WWVII, Kap. 31,
Hü 430). „Das Genie [...] strahlt eigenes Licht aus, während die andern nur
das empfangene reflektiren“ (PP II, Kap. 3, § 56, Hü 81). Zur Thematik der Geni-
alität bei Schopenhauer vgl. auch NK 358, 29-33 und NK 386, 21-22.
Vor N. vertritt bereits Schopenhauer einen entschiedenen Geistesaristokra-
tismus. Indem N. von „der aristokratischen Natur des Geistes“ spricht (199, 24-
25), adaptiert er Überzeugungen Schopenhauers, der das extreme Spektrum
intellektueller Fähigkeiten in seiner Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie
folgendermaßen charakterisiert: „Hat ein Mal die Natur in günstigster Laune
das seltenste ihrer Erzeugnisse, einen wirklich über das gewöhnliche Maaß
hinaus begabten Geist, aus ihren Händen hervorgehn lassen [...], - da dauert
es nicht lange, so kommen die Leute mit einem Erdenkloß ihres Gelichters
herangeschleppt, um ihn daneben auf den Altar zu stellen; eben weil sie nicht
begreifen [...], wie aristokratisch die Natur ist: sie ist es so sehr, daß auf
300 Millionen ihrer Fabrikwaare noch nicht Ein wahrhaft großer Geist kommt“
(PP I, Hü 189). Und in der Schlusspartie dieser Schrift, der zentralen Quelle für
N.s UB III SE (vgl. Kapitel III.4 im Überblickskommentar zu UB III SE), konsta-
tiert Schopenhauer emphatisch: „aristokratisch ist die Natur, aristokratischer,
als irgend ein Feudal- und Kastenwesen. Demgemäß läuft ihre Pyramide von
 
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