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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0204
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178 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

201,14-15 hier und da hat man darin wirklich ein Religionsbuch für den
Gelehrten finden wollen.] Bereits seit seinem Erstlingswerk Das Leben Jesu,
kritisch bearbeitet (1835), das ihn seine Stelle als Repetent am Evangelischen
Stift zu Tübingen gekostet hatte, galt David Friedrich Strauß (1808-1874) als
wichtiger Repräsentant der sogenannten ,Leben-Jesu-Forschung‘, die sich seit
der Aufklärung auf der Basis quellenkritischer Studien um eine wissenschaftli-
che Erforschung der Biographie des historischen Jesus von Nazareth bemühte.
In diesem Sinne versuchte Strauß den mythologischen Charakter und den dog-
matischen Anspruch biblischer Jesus-Darstellungen aufzuzeigen. Außerdem
machte er deutlich, dass sich tradierte religiöse Glaubensinhalte nicht prob-
lemlos in philosophische Terminologien transformieren lassen. In seinem Buch
Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß (1872), das N. in UB I DS pole-
misch attackiert, entfaltete Strauß ein philosophisches Konzept, durch das er
sich in eine Opposition zur christlichen Glaubenstradition begab. Strauß ver-
suchte die etablierte Religion durch einen von Hegels Geschichtsphilosophie,
Darwins Evolutionstheorie und dem Weltbild der modernen Wissenschaften
geprägten ,neuen Glauben4 zu ersetzen. In diesem Sinne lässt es sich erklären,
dass ANG - der Formulierung N.s zufolge - von etlichen Zeitgenossen als „Re-
ligionsbuch für den Gelehrten“ angesehen wurde. Zu den Zielsetzun-
gen von David Friedrich Strauß vgl. auch den Überblickskommentar. Vgl. hier
das Kapitel 1.6 „David Friedrich Strauß: Biographie und Werk“.
202, 5-6 Wir kennen ja alle die unserem Zeitalter eigenthümliche Art, die Wis-
senschaften zu betreiben] N. spielt hier vermutlich auf den Positivismus an, der
als wissenschaftstheoretisch fundierte Methode auf der Basis des Empirismus
bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von den Naturwissenschaften aus
auch in die Geisteswissenschaften Eingang fand. Begründet wurde der Positi-
vismus durch den französischen Philosophen, Mathematiker und Religionskri-
tiker Auguste Comte (1789-1857). Das sechsbändige Hauptwerk Cours de Philo-
sophie positive von Comte, der auch als Mitbegründer der Soziologie gilt,
erschien von 1826 bis 1842. In seiner ,Dreistadientheorie4 geht Comte davon
aus, dass dem theologischen und metaphysischen Zeitalter eine Epoche positi-
ver4 Wissenschaft folge, in der die Menschen ihren religiösen oder metaphysi-
schen Aberglauben überwunden haben. Leitend ist dabei die Prämisse, dass
die Quelle der Erkenntnis im Gegebenen liegt, mithin in den positiven Tatsa-
chen, die durch Beobachtung wahrzunehmen sind. In diesem Sinne bilden die
Grenzen der Erfahrung für den Positivisten zugleich auch die Grenzen der Er-
kenntnis, so dass sich Fragestellungen, die über das unmittelbar Gegebene hi-
nausreichen und auf Wesen, Sinn oder gar metaphysische Entitäten zielen, von
vornherein erübrigen. Vertreter des Positivismus gehen auch davon aus, dass
sich Werturteile nicht rational legitimieren lassen.
 
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