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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0206
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180 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

die Menschen: alles Urtheilen ist so büchermässig uniform, ja im Grunde sogar
nur zeitungsgemäss“ (204, 9-14). - Mit den Defiziten des Wissenschaftler-
Typus setzt sich N. im Rahmen seiner Unzeitgemässen Betrachtungen mehrfach
auseinander, auch in UB II HL und in UB III SE, besonders pointiert in der Ge-
lehrtensatire, die er in UB III SE entfaltet (vgl. KSA 1, 394, 20 - 400, 8).
202, 24-28 Dieses Paradoxon, der wissenschaftliche Mensch, ist nun neuer-
dings in Deutschland in eine Hast gerathen, als ob die Wissenschaft eine Fabrik
sei Jetzt arbeitet er, so hart wie der vierte Stand, der Sclavenstand] Die auf
den modernen Wissenschaftler-Typus bezogene Sklaven- und Fabrik-Meta-
phorik führt N. später analog in UB II HL weiter: Dort ist explizit von den „Scla-
ven“ die Rede (KSA 1, 300, 29), die in „der wissenschaftlichen Fabrik arbeiten“
(KSA 1, 300, 26). Mit dieser drastischen Vorstellung betont N. die unwürdigen
Arbeitsbedingungen von Wissenschaftlern, die einem hektischen Aktionismus
verfallen, weil ihnen das Kreativitätsstimulans der Muße fehlt. Deformierende
Selbstentfremdung und pragmatisches Kalkül kennzeichnen die durch Hetero-
nomie bestimmte Situation solcher „wissenschaftliche[n] Menschen“. Später
entfaltet N. diese Problematik in UB III SE auch durch eine pointierte und facet-
tenreiche Satire (KSA 1, 394, 20 - 400, 8), in der er den Gelehrten einen Mangel
an intrinsischer Motivation zuschreibt und ihnen zugleich eine Vielzahl sach-
fremder Interessen attestiert. Die Sklaven-Metapher rückt er dort zuvor in einen
anderen Kontext, wenn er die zeitgenössischen Menschen „als die geplagten
Sklaven der drei M, des Moments, der Meinungen und der Moden“ bezeichnet
(KSA 1, 392, 10-11) und deren Mentalität insofern mit dem Anspruch auf Un-
zeitgemäßheit kontrastiert. In der Geburt der Tragödie hingegen ist es „der
Journalist“4, der als „der papierne Sclave des Tages“ erscheint (KSA 1,130, 20).
Und in UB II HL etikettiert N. schlagwortartig die seines Erachtens zur Medio-
krität führende Situation, der er „die jüngste Generation der Gelehrten“ ausge-
liefert sieht (KSA 1, 301,1-2), durch „die Worte ,Fabrik, Arbeitsmarkt, Angebot,
Nutzbarmachung4“ (KSA 1, 300, 33-34). Die Problematik der Zweckinstrumen-
talität betont N. in dieser Schrift zuvor auch in umfassenderem Sinne, wenn er
die Abrichtung des modernen Menschen „in der Fabrik der allgemeinen Utilitä-
ten“ kritisiert (KSA 1, 299, 8). Vgl. dazu ausführlicher NK 299, 3-9. In diesen
Textbelegen aus der Frühphase von N.s Schaffen liegt das Tertium compara-
tionis der Sklaven- und Fabrik-Metapher in einer entfremdenden Instrumenta-
lisierung. Ihr hält N. sein eigenes Postulat unzeitgemäßer Autonomie und
individueller Selbstentfaltung sowie seinen geistesaristokratischen Anspruch
entgegen.
In dieser Hinsicht schließt N. bereits in UB I DS, später auch in UB II HL
und vor allem in UB III SE an Überzeugungen Schopenhauers an, der den „ge-
wöhnliche[n] Mensch[en]44 schon in der Welt als Wille und Vorstellung I von
 
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