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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0231
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Stellenkommentar UB I DS 10, KSA 1, S. 218 205

„Nicht Voltaire’s maassvolle, dem Ordnen, Reinigen und Umbauen zuge-
neigte Natur, sondern Rousseau’s leidenschaftliche Thorheiten und Halblü-
gen haben den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen“, der den
„Geist der Aufklärung und der fortschreitenden Entwickelung
auf lange verscheucht“ hat (KSA 2, 299, 26-32). Und in der Vorrede zur Morgen-
röthe sieht er Kant von der „Moral-Tarantel Rousseau gebissen“ und zum „mo-
ralischen Fanatismus“ getrieben, „als dessen Vollstrecker sich ein andrer Jün-
ger Rousseau’s fühlte und bekannte, nämlich Robespierre“ (KSA 3, 14, 14-17).
In der Götzen-Dämmerung bekennt N. in den „Streifzügen eines Unzeitge-
mässen“ sogar seinen Hass auf Rousseau, von dessen Konzepten er seine eige-
nen Vorstellungen einer „.Rückkehr zur Natur“4 im Sinne von „Hin auf kom-
men“ abgrenzt: „hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und
Natürlichkeit“, wie sie „Napoleon“ repräsentiere (KSA 6,150, 2-7). Und N. fährt
polemisch fort: „Aber Rousseau - wohin wollte der eigentlich zurück? Rous-
seau, dieser erste moderne Mensch, Idealist und Canaille in Einer Person; [...]
krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung. Auch diese
Missgeburt, welche sich an die Schwelle der neuen Zeit gelagert hat, wollte
,Rückkehr zur Natur4 - [...] Ich hasse Rousseau noch in der Revolution“, näm-
lich „ihre Rousseau’sche Moralität“ (KSA 6,150, 9-21). Aus dem Kontext die-
ses Zitats erhellt, dass sich N. dort vor allem durch das Revolutionsideal der
egalite provoziert sieht, das seinem eigenen Geistesaristokratismus diametral
gegenübersteht: „Die Lehre von der Gleichheit!... Aber es giebt gar kein giftige-
res Gift: denn sie s c h e i n t von der Gerechtigkeit selbst gepredigt, während sie
das Ende der Gerechtigkeit ist...“ (KSA 6, 150, 23-26).
In einem Nachlass-Notat von 1887 attestiert N. „Rousseau unzweifelhaft die
Geistesstörung“ und die „Rancune des Kranken; die Zeiten seines Irr-
sinns auch die seiner Menschenverachtung, und seines Mißtrauens“ (NL 1887,
9 [184], KSA 12, 448). - Ein anderer nachgelassener Entwurf aus derselben Zeit-
phase, der durch die Überschrift „Halkyonia. / Nachmittage eines Glückli-
chen. / Von / Friedrich Nietzsche“ (NL 1887,10 [1], KSA 12, 453) wie ein Konzept
zu einem neuen Werk erscheint, zeigt den systematischen Stellenwert der Ab-
grenzung von Rousseau für N., der sich dort unter dem Titel „Meine fünf
, Neins 444 sogar in mehrfacher Hinsicht von Rousseau distanziert, nämlich im
Hinblick auf anthropologische Prämissen, Antirationalismus, egalitäre Prinzi-
pien und ethische Ideale. Dabei sind zwei der „fünf , Neins4“, das dritte und
das vierte, auf Konzepte Rousseaus fokussiert: „3. Mein Kampf gegen das
18. Jahrhundert Rousseaus, gegen seine ,Natur4, seinen ,guten Menschen4,
seinen Glauben an die Herrschaft des Gefühls - gegen die Verweichlichung,
Schwächung, Vermoralisirung des Menschen: ein Ideal, das aus dem Haß ge-
gen die aristokratische Cu 11ur geboren ist und in praxi die Herrschaft
 
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