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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0275
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Stellenkommentar UB I DS 12, KSA 1, S. 241-242 249

Inwiefern N. dabei von Schopenhauers Postulat einer kompromisslosen
„Wahrheitsforschung“ (PP I, Hü 149) beeinflusst ist, zeigen etliche Belege (vgl.
dazu NK 398, 2-11 und NK 411, 8). Für vorbildlich hielt N. Schopenhauer auch
in charakterlicher Hinsicht, weil er „lehrte, einfach und e h r 1 i c h, im Denken
und Leben, also unzeitgemäss zu sein, das Wort im tiefsten Verstände genom-
men“ (KSA 1, 346, 12-14). Bezeichnenderweise zitiert N. in UB III SE Schopen-
hauers Maxime „vitam impendere vero“ [das Leben der Wahrheit weihen]
(KSA 1, 411, 8), die dieser von Juvenal (Satiren IV 91) übernommen und beiden
Bänden der Parerga und Paralipomena jeweils markant auf dem Titelblatt als
Motto vorangestellt hat. In seiner Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie
greift Schopenhauer auf dieses Juvenal-Zitat implizit mit der Paraphrase „sich
der Wahrheit weihen“ zurück, um das ,Unzeitgemäße4 eines solchen Ethos
dann damit zu begründen, dass die „Wahrheit [...] zu allen Zeiten ein gefährli-
cher Begleiter, ein überall unwillkommener Gast gewesen ist“ (PP I, Hü 163).
Auch im Hinblick auf das Ideal der,Unzeitgemäßheit4 (vgl. z. B. KSA 1, 346,
13; 361, 9-14), das N. im vorliegenden Kontext mit einem programmatischen
Wahrheitsanspruch verbindet, ist er bis in sein Spätwerk hinein nachhaltig von
Auffassungen Schopenhauers geprägt, die sich durch etliche Korrespondenzen
mit dessen CEuvre belegen lassen. Im 20. Kapitel „Ueber Urtheil, Kritik, Beifall
und Ruhm“ der Parerga und Paralipomena II beispielsweise grenzt Schopen-
hauer die „Werke gewöhnlichen Schlages“, die „dem Geiste der Zeit, d. h. den
gerade herrschenden Ansichten“ entsprechen und „auf das Bedürfniß des Au-
genblicks berechnet“ sind, von den „außerordentlichen Werke[n]44 ab, die
„Jahrhunderte zu leben“ vermögen und aus diesem Grund „der Bildungsepo-
che und dem Geiste ihrer eigenen Zeit fremd“ bleiben; denn sie „gehören eben
einer andern, einer hohem Bildungsstufe und einer noch fern liegenden Zeit
an“ (PP II, Kap. 20, § 242, Hü 504). Wer also „etwas Großes zu leisten“ beab-
sichtigt, „etwas, das seine Generation und sein Jahrhundert überlebt“, muss
sich laut Schopenhauer über die Mentalität seiner „Zeitgenossen, nebst ihren
Meinungen“ und Werturteilen hinwegsetzen und sich stattdessen konsequent
„auf die Nachwelt“ ausrichten (PP II, Kap. 20, § 242, Hü 503). Sich „dem Ein-
flüsse seiner Zeit [zu] entziehn“, bedeutet allerdings zugleich „auch meistens
dem Einfluß auf seine Zeit [zu] entsagen“, so dass es gilt, „den Ruhm der Jahr-
hunderte mit dem Beifall der Zeitgenossen zu erkaufen“ (ebd.). Daher konsta-
tiert Schopenhauer: „Die ausgezeichneten Geister dringen selten bei Lebzeiten
durch; weil sie im Grunde doch bloß von den ihnen schon verwandten ganz
und recht eigentlich verstanden werden“ (PP II, Kap. 20, § 242, Hü 505). Solche
Produkte einer intellektuellen oder künstlerischen Avantgarde entsprechen der
,Unzeitgemäßheit4, die N. wiederholt propagiert und zugleich auch für sich
selbst in Anspruch nimmt.
 
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