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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0326
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300 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

steht, so möchte im Streben nach Erkenntniss des gesammten historischen Ge-
wordenseins - welches immer mächtiger die neuere Zeit gegen alle früheren
abhebt und zum ersten Male zwischen Natur und Geist, Mensch und Thier,
Moral und Physik die alten Mauern zerbrochen hat - ein Streben nach Geniali-
tät der Menschheit im Ganzen zu erkennen sein. Die vollendet gedachte Histo-
rie wäre kosmisches Selbstbewusstsein“ (KSA 2, 460, 29 - 461, 8).
In einem nachgelassenen Notat formuliert N. 1883 seine programmatische
Intention: „Die Vergangenheit befruchten und die Zukunft zeugen - das sei
mir Gegenwart!“ (NL 1883, 16 [88], KSA 10, 531). Und in einem anderen Notat
vom Frühjahr 1888 erklärt er dann sogar: „Ich versuche auf meine Weise eine
Rechtfertigung der Geschichte“ (NL 1888, 15 [63], KSA 13, 450). Konträr zu
Schopenhauer konzipiert N. auch die Philosophie als genuin historische, in-
dem er feststellt: „Die Philosophie, so wie ich sie allein noch gelten lasse, als
die allgemeinste Form der Historie, als Versuch das Heraklitische Werden ir-
gendwie zu beschreiben und in Zeichen abzukürzen (in eine Art von scheinba-
rem Sein gleichsam zu übersetzen und zu mumisiren)“ (NL 1885, 36 [27],
KSA 11, 562). Seine fundamentale Distanz zum Schopenhauerschen Ideen-Pla-
tonismus macht N. in einem markanten Notat auch selbst explizit: „Was uns
von allen Platonischen und Leibnitzischen [sic] Denkweisen am Gründlichsten
abtrennt, das ist: wir glauben an keine ewigen Begriffe, ewigen Werthe, ewigen
Formen, ewigen Seelen; und Philosophie, soweit sie Wissenschaft und nicht
Gesetzgebung ist, bedeutet uns nur die weiteste Ausdehnung des Begriffs ,His-
torie4.“ (NL 1885, 38 [14], KSA 11, 613).
Eine implizite Revision der radikalen Funktionsbestimmung, die er in
UB II HL für die ,kritische Historie4 entworfen hat, geht aus einer eher affirmati-
ven Überlegung hervor, die N. 1881 in einem nachgelassenen Notat entfaltet:
„Habt ihr kein Mitleiden mit der Vergangenheit? Seht ihr nicht, wie sie preisge-
geben ist und von der Gnade dem Geiste der Billigkeit jedes Geschlechtes wie
ein armes Weibchen abhängt? Könnte nicht jeden Augenblick irgend ein gro-
ßer Unhold kommen, der uns zwänge, sie ganz zu verkennen, der unsre Ohren
taub gegen sie machte oder gar uns eine Peitsche in die Hand gäbe, sie zu
mißhandeln?“ (NL 1881, 15 [51], KSA 9, 651-652). Diesem Notat, in dessen
Kontext N. bereits Vorarbeiten für Also sprach Zarathustra unternimmt (vgl.
NL 1881, 15 [50], KSA 9, 651), folgt später die programmatische Feststellung:
„Zarathustra will keine Vergangenheit der Menschheit verlieren, alles in den
Guß werfen. Verwandlung der Kraft“ (NL 1883, 15 [6], KSA 10, 480). Derartige
Einschätzungen unterscheiden sich fundamental von dem radikalen Verdikt
über die Geschichte, das N. noch 1875 in einem nachgelassenen Notat formu-
liert hatte: „So ist die Aufgabe der Wissenschaft der Geschichte gelöst, und
sie selber ist überflüssig geworden: wenn der ganze innerlich zusammenhän-
 
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