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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0346
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320 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

sehen Standpunkte aus beleuchten sollen“ (Cosima Wagner: Tagebücher, Bd. I,
1976, 810-811). Dennoch prognostiziert Wagner hinsichtlich der späteren Re-
zeption zutreffend: „wenn er sehr berühmt werden sollte, wird auch diese
Schrift einst beachtet werden“ (ebd., 810).
Der längst berühmte Jacob Burckhardt, den N. sehr bewunderte, erklärt
am 25. Februar 1874 in einem Brief an N. mit jovialem Gestus, sein „armer
Kopf“ sei „gar nie im Stande gewesen, über die letzten Gründe, Ziele und
Wünschbarkeiten der geschichtlichen Wissenschaft auch nur von ferne so zu
reflectiren wie Sie dieses vermögen“ (KGB II4, Nr. 512, S. 394). Karl Löwith re-
lativiert den positiven Gehalt dieser Aussage in seinem Buch Jacob Burckhardt.
Der Mensch inmitten der Geschichte (1936) allerdings durch den Hinweis, dass
Burckhardt „auf den eigentlichen Inhalt“ von UBII HL in seinem Brief gar
nicht eingehe und sich mit „prinzipieller Kritik“ höflich zurückhalte: Während
N.s „Abhandlung - trotz ihres Titels - im Wesentlichen gar nicht vom ,Nutzen',
sondern vom ,Nachteil' der Historie handelt“, stand für Burckhardt „der Nutzen
einer Aneignung“ der Geschichte gerade angesichts der „Krisen der Gegen-
wart“ fest (Löwith 1936, 19). Darin sieht Löwith die „entscheidende Differenz
zwischen Burckhardt und Nietzsche“, um dann mit deutlicher Wertung zu er-
klären: „Die allmächtige Zeit hat aber Nietzsches Kritik der Historie zum Siege
verhülfen und den ,Historismus4 des 19. Jahrhunderts zum Schweigen ge-
bracht“ (ebd., 35). Auch Curt Paul Janz beurteilt N.s positive Einschätzung von
Burckhardts brieflicher Reaktion auf UB II HL skeptisch: „Daß in diesen wohl
freundlich gehaltenen Zeilen ein doch erschreckendes Distanznehmen des in
allen Urteilen behutsamen Historikers liegt, ging Nietzsche offenbar nicht auf“
(Janz 1978, Bd. 1, 566). - Aufschlussreiche Perspektiven auf Burckhardt finden
sich übrigens (etliche Jahre nach dem Erscheinen von UB II HL) 1882 und 1883
in mehreren Briefen N.s: Für ihn ist „Professor Jacob Burckhardt“ „ein ganzer
eigentlicher Historiker“, und zwar „der Erste unter allen lebenden“, wie er
Lou von Salome ca. am 16. September 1882 in einem Brief mitteilt, um anschlie-
ßend zu spekulieren: „er möchte gar zu gerne einmal aus andern Augen se-
hen, zum Beispiel, wie der seltsame Brief verräth, aus den meinigen [...]; viel-
leicht möchte er mich gerne als Nachfolger in seiner Professur? - Aber über
mein Leben ist schon verfügt“ (KSB 6, Nr. 305, S. 259). Zur gleichen Zeit
schreibt N. an Heinrich Köselitz sogar dezidiert: ,Jak<ob> Burckhardt will, daß
ich ,Professor der Weltgeschichte4 werde; ich lege seinen Brief bei“ (KSB 6,
Nr. 307, S. 263). Und Anfang April 1883 zitiert N. ihn in einem Brief an Franz
Overbeck so: „Jakob Burckhardt hat mich sehr eindringlich aufgefordert,,Welt-
geschichte ex professo zu dociren4 - mit Hindeutungen auf seinen Lebens-
abend“ (KSB 6, Nr. 398, S. 354).
Malwida von Meysenbug goutiert am 8. April 1874 in einem Brief an N.
„die Kraft des Zorns und der gerechten Empörung“, deren „Flamme“ für sie in
 
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