Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0372
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
346 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

eben deshalb ist sie eine deutsche Schicksalsfrage. Wenn wir nicht handeln
lernen, wie es die wirkliche Geschichte meint, mitten in einer Zeit, die welt-
fremde Ideale nicht duldet und an ihren Urhebern rächt, in der das harte Tun,
das Nietzsche auf den Namen Cesare Borgias getauft hat, allein Geltung besitzt,
in der die Moral der Ideologen und Weltverbesserer noch rücksichtsloser als
sonst auf ein überflüssiges Reden und Schreiben beschränkt wird, dann wer-
den wir als Volk aufhören zu sein“; Spengler erkennt bei N. erstmals eine un-
entbehrliche „Lebensweisheit“, die aus „schlimmen Lagen [...] heraushilft“,
und erklärt emphatisch: „Er hat dem geschichtshungrigsten Volke der Welt die
Geschichte gezeigt, wie sie ist. Sein Vermächtnis ist die Aufgabe, die Geschich-
te so zu leben“ (Spengler: Reden und Aufsätze, 1937, 123-124). Diese N.-Deu-
tung Spenglers erscheint symptomatisch für die Krisenmentalität der 1920er
Jahre, mithin einer Zeitphase, in der sich die Vertreter radikal rechter Gruppie-
rungen bereits ein „entsprechend nationalisiertes Bild Nietzsches zurechtge-
legt“ hatten (Aschheim 1996, 21).
Schon längst hatte die Problematik des Historismus den engeren Bereich
der Geschichtsschreibung transzendiert und auch in andere akademische Dis-
ziplinen hineingewirkt, etwa in Theologie, Philosophie, Nationalökonomie und
Soziologie. Einen Markstein der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem
Historismus und Vitalismus bildete das umfangreiche und vieldiskutierte Werk
Der Historismus und seine Probleme, das der Theologe, Historiker und Phi-
losoph Ernst Troeltsch 1922 publizierte (I. Buch: Das logische Problem der
Geschichtsphilosophie). Mitunter lassen auch solche Textpassagen, in denen
Troeltsch auf N. nicht ausdrücklich Bezug nimmt, gedankliche Affinitäten zu
UB II HL erkennen: So reflektiert er ebenfalls über die Möglichkeit einer inte-
ressegeleiteten,Konstruktion4 der Geschichte (vgl. in UB II HL: 270, 21-23 sowie
290, 12-26 und 296, 18-25; vgl. dazu Troeltsch 1922, 70, 73). Und wenn ihm
,schlechter4 Historismus als „unbegrenzter Relativismus“ sowie als „Lähmung
des Willens und des eigenen Lebens“ erscheint, die „Skepsis“, „Ironie“ oder
„Sarkasmus“ evozieren kann (ebd., 68), dann werden Parallelen zu einer Diag-
nose N.s in UB II HL evident: „wir selbst tragen die Spuren jener Leiden, die in
Folge eines Uebermaasses von Historie über die Menschen der neueren Zeit
gekommen sind“ (324, 23-25). Anschließend hebt N. (auch selbstkritisch) den
„häufigen Uebergang von Ironie zum Cynismus, von Stolz zur Skepsis“ beim
„modernen Charakter“ hervor (324, 27-29).
In unterschiedlichen Zusammenhängen seines Historismus-Werks bringt
Troeltsch auch explizit Konzepte N.s ins Spiel. So hebt er den maßgeblichen
Einfluss N.s auf Spenglers Kulturmorphologie hervor, indem er feststellt: „Zu-
letzt hat Oswald Spenglers ,Untergang des Abendlandes4 die Methode Nietz-
sches noch näher philosophisch begründet und ergänzt; die grundsätzlich di-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften