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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0374
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348 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Historie und Gegenwart und kein Ziel und keine Maßstäbe“, so dass sie gerade
dadurch „den normativen Gedanken und die rationale Vernunft“ herausfordere
(ebd., 141). Korrespondenzen zwischen N. und Schopenhauer betont Troeltsch,
indem er bereits Schopenhauer als den ,,schärfste[n] Kritiker des Historismus“
und als „Begründer der Lebensidee und der Lebensphilosophie“ bezeichnet
und von ihm Impulse ausgehen sieht, die Kontinuitäten schaffen: in Gestalt
der zeitgenössischen Impulse zur „Befreiung von Historismus und Wissen-
schaftsdürre“ (ebd., 310).
Ausdrücklich problematisiert Troeltsch „individualistisch-aristokratisch [e]“
Aspekte von „Nietzsches Geschichtsphilosophie“ (ebd., 502) und sieht sogar
die spätere „Utopie des Uebermenschen“ bei N. „noch eng mit seiner Ge-
schichtsphilosophie oder psychologischen Konstruktion der Geschichte“ ver-
bunden; dabei betont er die Grundtendenz, „daß das Ganze immer mehr zu
einem von aller kritischen und rationalen Wissenschaft gelösten grandios intu-
itiv geschauten Bilde wird“, zu einem bloß subjektiven Ausdruck von „Geniali-
tät und Selbstgefühl des Denkers“ (ebd., 504). Insofern glaubt Troeltsch bei N.
„eine doppelte historische Methode“ diagnostizieren zu können: „eine solche
der Intuition und eine solche der gewöhnlichen kausalen Reflexion“ (ebd.,
505). Dabei können „Erkenntnis und Wissenschaft“ seines Erachtens auch zum
pragmatischen „Mittel des Willens zur Macht“ depravieren (ebd., 504). Vor die-
sem Hintergrund problematisiert Troeltsch eine mögliche „Vernichtung der his-
torischen Bildung und des historischen Wissens“, die sogar eine „Rückkehr
zur Barbarei“ verursachen könne (ebd., 4), und reflektiert insofern auch die
negativen Konsequenzen von zivilisatorischen Decadence-Prozessen, mit de-
nen sich schon N. im Rahmen von UB II HL auseinandersetzt. Tendenzen zur
„Barbarisierung“ führt Troeltsch dann allerdings nicht auf den „Entschluß ei-
ner in der Büchermasse erstickenden Jugend“ zurück (ebd., 4), in deren Inte-
resse N. in der Schlusspassage von UB II HL argumentiert (vgl. 322-332). Viel-
mehr versteht er eine solche „Barbarisierung“ als „das trübselige, unendlich
lang sich hinziehende Ende überalterter Kulturen“ (Troeltsch 1922, 4).
Im CEuvre N.s erblickt Troeltsch „eine völlige Revolution wie der Ethik so
auch der Historie“; dabei nimmt er explizit auf „die berühmte Unzeitgemäße“
Bezug, indem er die schon im Titel von UB II HL angelegte „Doppelseitigkeit“
betont (ebd., 495): „Die Historie bringt also Schaden und Nutzen zugleich, ist
zu bekämpfen und zu benutzen in einem Atem, verlangt eine ganz groß und
frei stilisierte Auffassung und erscheint dann doch wieder wie alle Wissen-
schaft als das Ressentiment des unschöpferischen Menschen gegen die freie
Produktivität des Genies. Aus diesem Widerspruch ist Nietzsche nie herausge-
kommen“ (ebd., 140). Die „positive Seite, die Bedeutung der Geschichtsphilo-
sophie für die Ueberwindung der Gegenwart und die Begründung der Zu-
 
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