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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0382
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356 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Weltbildes beschreibt, mit dem sich eine prinzipienlose Akzeptanz des Vorhan-
denen verbinde (Jaspers, 1919 4. Aufl. 1954, 182). Der „dieser Verabsolutierung
verfallende Mensch“ wird von Jaspers folgendermaßen charakterisiert: „Statt
sich auseinanderzusetzen, versteht er. Statt zu wählen, zu bejahen oder zu be-
kämpfen, erkennt er alles Wirksame bloß darum an, weil es da war und wirk-
sam war“ (ebd.). Die Problematik dieser relativistischen Haltung, in der Jaspers
weder Urteilsmaßstäbe noch argumentativ begründete Präferenzen am Werke
sieht, beschreibt er in der Psychologie der Weltanschauungen so: „Durch die
Verabsolutierung des Verstehens wird der Mensch zuletzt seiner persönlichen
Existenz beraubt. Ihm ist alles und darum nichts wichtig. Die Geschichte und
das grenzenlose Verstehen dient ihm entweder dazu, alles Gewordene zu recht-
fertigen oder umgekehrt: sie zeigt ihm gleichsam den Weg des Teufels, der
mit jedem Schritt der Geschichte das Wertvolle zerstört; dann dient ihm die
Geschichte dazu, alles zu verneinen [...]. So wird der Mensch der Kraft des
eigenen Lebens beraubt, und es bleibt ihm allgemeine Begeisterung und allge-
meines Verneinen oder beides durcheinander, jedenfalls ein passives Zusehen
und ein bloß reaktives Wertgefühl. Ihm verschwindet das Bewußtsein der Ge-
genwart, des Sinnes und der unendlichen Wichtigkeit des augenblicklichen
Daseins, das Bewußtsein der Entscheidung, der Verantwortung, mit einem
Wort der lebendigen Existenz“ (ebd.).
Affinitäten zu N.s kritischer Auseinandersetzung mit der Historismus-Pro-
blematik treten in dieser Überlegung von Jaspers deutlich hervor: Ähnlich wie
Jaspers in seiner Psychologie der Weltanschauungen attestiert in UB II HL be-
reits N. dem Menschen, der unter der Überlast des Historischen leidet, einen
Verlust an vitaler Kraft und lebendiger Gegenwartserfahrung, einen Mangel an
Persönlichkeit und Urteilsfähigkeit sowie eine Tendenz zu Passivität, geistiger
Indifferenz und resignativer Lethargie. Analog zu N.s Historienschrift entfaltet
später auch Jaspers eine kritische Diagnose der epochalen Krisensituation.
Zugleich sind allerdings Unterschiede festzustellen: Denn N. betrachtet die
kritische Historie als notwendiges Korrektiv zur problematischen Zeitsituation
und hebt ihre therapeutische Funktion und ihr konstruktives Potential hervor.
Jaspers hingegen schreibt der Krisensymptomatik selbst ein kritisches Moment
zu, wenn er in der Psychologie der Weltanschauungen erklärt, die Geschichte
zeige dem vom Historismus infizierten Menschen „gleichsam den Weg des Teu-
fels, der mit jedem Schritt der Geschichte das Wertvolle zerstört; dann dient
ihm die Geschichte dazu, alles zu verneinen“ (ebd.). Das Prinzip einer destruk-
tiven Verneinung betont Jaspers hier so sehr, dass dabei sogar eine Affinität
zu dem Nihilismus entsteht, der in Goethes Faust I die Selbstcharakterisierung
Mephistos bestimmt: „Ich bin der Geist, der stets verneint! / Und das mit Recht;
denn alles, was entsteht, / Ist wert, daß es zugrunde geht“ (V. 1338-1340). Die-
 
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