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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0393
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 367

fragt er dann: „Wer entscheidet darüber, welcher Genius der Maßsetzende sein
soll? Kann darüber durch die Besinnung auf die echten Bedürfnisse entschieden
werden?“ (ebd., 213).
Diesem Fragenkomplex lässt Heidegger schließlich eine fundamentale
Problematisierung von N.s Begriff des ,Lebens4 folgen, dessen Essenz seines
Erachtens „durch ,Biologie4“ ebensowenig bestimmbar ist wie der Begriff der
,Historie4 „durch Geschichtswissenschaft4“ (ebd., 9). Heidegger konstatiert,
dass N. die „Ansetzung des Seienden im Ganzen als Leben und des Menschen
als des tierhaften Subjektums“ in UB II HL nicht „rechtfertigt“; und gerade da-
rauf führt er seine spätere „rücksichtslose Entfaltung der Auslegung des Wil-
lens und des Menschen als ,Leben4“ zurück (ebd., 214). Dem vitalistischen Kon-
zept, das bereits N.s Historienschrift und später vor allem seine Auffassung
vom ,Willen zur Macht4 prägt, schreibt Heidegger eine antirationalistische
Grundhaltung zu. Kritisch reagiert er auf das damit verbundene sozialdarwinis-
tische Potential: „Ist der Rückgang auf die Bedürfnisse des Lebens überhaupt
Besinnung und nicht vielmehr die Flucht vor der Besinnung und die Flucht in
das Tier, das nur kraft seines Lebens auch schon im ,Recht4 und ,gerecht4 ist?
Wie, wenn die ,höhere Gerechtigkeit4 nur die Selbstrechtfertigung des Tieres
als des Raubtieres sein könnte?“ (ebd., 213).
Nicht allein in UB II HL, sondern in N.s CEuvre insgesamt stellt Heidegger
fest, „daß ,Leben4 im voraus gesetzt ist als Lebens-Steigerung, als die Gier nach
Sieg und Beute und Macht, d. h. in sich schon: immer mehr Macht“, einschließ-
lich „der Gewalt als Machtmittel“ (ebd., 215). Kritik übt Heidegger also am vita-
listischen Reduktionismus dieses Lebensbegriffs und seinen pejorativen Impli-
kationen im Sinne ungehemmter Machtgier (vgl. ebd., 213-215). Auf dieser
Basis deutet er dann auch N.s anticartesianische Maxime „ego vivo - ergo cogi-
to“ radikal als „das Ja zum Raubtier“ (ebd., 214). Damit bezieht sich Heidegger
auf die Passage in UB II HL, in der sich N. auf der Basis seines Vitalismus vom
sterilen Intellektualismus derer abgrenzt, die zur „unlebendige [n] und doch
unheimlich regsame[n] Begriffs- und Wort-Fabrik“ degeneriert sind und des-
halb von sich selbst nur noch sagen können: „cogito, ergo sum, nicht aber
vivo, ergo cogito“ (329, 6-9). - Zu Heideggers Kritik an N.s Begriffsgebrauch
und zu seinem Vorwurf der ,Unseynsgeschichtlichkeit4 sowie zur Behauptung,
N. sei weder die Überwindung der Metaphysik noch eine adäquate Untersu-
chung der Historie gelungen, vgl. Pastorino 2012, 330-332. Gegen den argu-
mentativen Duktus Heideggers meint Pastorino einwenden zu können, er ver-
binde seine Kritik an N. mit permanenten Rechtfertigungen seiner eigenen
Deutung zu dessen Historienschrift, gerate dabei in einen „circulus vitiosus“
und vollziehe eine „petitio principii“ (vgl. ebd.). Allerdings würdigt Heidegger
N. in seinen vorbereitenden Seminar-Aufzeichnungen zu UB II HL, indem er
 
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