Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0395
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 369

131), auch wenn N. später schließlich „zum Vollender der abendländischen Me-
taphysik“ geworden sei (ebd., 131). Außerdem betont Heidegger „Nietzsches
unzureichende Vorstellung vom ,Wirken4 der Philosophie, trotzdem er weiß,
daß sie nicht und nie für das Volk ist“ (ebd., 132). Darüber hinaus hält er N.s
Fokussierung auf den Primat des Lebens in der Historienschrift für einseitig
und insofern für unzureichend: „Philosophie trotz der wesentlichen Einsichten
immer und nur im Hinblick auf ,Leben4 und ,Cultur4 gesehen - ,der Philo-
soph4 - und nicht im Wesen erfragt aus dem, was in ihrer Wahrhaftigkeit ei-
gentlich das zu Erfragende und zu Wissende ist“ (ebd., 132).
Zwei Jahre vor Heideggers Seminar-Aufzeichnungen zu N.s Historienschrift
(im Wintersemester 1938/39) betont Karl Löwith, der zwar als Schüler Heideg-
gers gilt, zu ihm allerdings schon früh auf Distanz ging (vor allem während
des Nationalsozialismus), den grundlegenden Unterschied zwischen N.s und
Burckhardts Einstellung zur Geschichte. In seinem Buch Jacob Burckhardt. Der
Mensch inmitten der Geschichte (1936) stellt Löwith „Nietzsches antihistorischer
Kampfschrift, deren letztes Ziel die Vernichtung der dekorativen Kultur, aber
keine freie Betrachtung des Menschen in der Geschichte war“, die „historische
Kontemplation“ Burckhardts gegenüber, die durch „entschiedene Abkehr von
allen modernen Radikalismen“ bestimmt gewesen sei, mithin auch durch Dis-
tanz zu N.s philosophischem Experimentieren und seiner Tendenz zum „Ex-
trem“ (Löwith 1936, 55). Vgl. auch ebd., 29, 48. (Kritisch zu Löwiths These von
„Nietzsches antihistorischer Kampfschrift“: Volker Gerhardt 1988, 135).
Löwith geht auch auf N.s beharrliches Werben um Jacob Burckhardt ein,
dem sich dieser klug, höflich und ironisch entzogen habe (vgl. Löwith 1936,
11-15). Aber zugleich pointiert er den Antagonismus in Mentalität und Ge-
schichtsverständnis: „Der eigentliche Gegner von Burckhardt ist und bleibt
aber Nietzsche, dessen Schrift über den Nutzen und Nachteil der Historie für
das Leben den ,Historismus4 von Burckhardt in Frage stellt“ (ebd., 10). Auf
dieser Basis deutet Löwith die Konstellation unter dem Aspekt der Unzeitge-
mäßheit folgendermaßen: Burckhardt sei im Glauben „an den Wert dieses his-
torisch-bewahrenden Wissens“ sogar „viel ,unzeitgemäßer4 als Nietzsche, der
durch sein Wirkenwollen gegen die Zeit [...] sich so tief in sie einlassen mußte,
daß er schließlich die Zeit überhaupt vergessen wollte, um in Unschuld
neu beginnen zu können“ (ebd., 48-49). Dieser Gedanke ist offenbar durch
Zarathustra-Assoziationen Löwiths beeinflusst, der mehrere Aspekte von Also
sprach Zarathustra bereits in UBII HL antizipiert sieht: etwa die Perspektive
auf das Überhistorische, das Vergessen und die Erlösung vom Vergangenen
(vgl. ebd., 41-46).
N.s Plädoyer in UB II HL „Formt in euch ein Bild, dem die Zukunft entspre-
chen soll, und vergesst den Aberglauben, Epigonen zu sein“ (295, 6-7) charak-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften