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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0406
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380 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

tel dem ermüdeten Gaumen der nach Historie Gierigen vorgesetzt“ (279, 30-
33). Über die Zeitstruktur exponentieller Beschleunigung in Historie und Kul-
turgeschichte generell reflektiert Reinhart Koselleck in seinem Buch Vergange-
ne Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (1979). Hier geht er im Hinblick
auf den „erst seit 1870“ belegten Begriff,Neuzeit4 (ebd., 302) auch auf die „Se-
mantik moderner Bewegungsbegriffe“ (ebd., 300) ein. Vgl. ebd., 300-348.
Die Enttäuschung eines geschichtsphilosophischen Optimismus prägte die
Konzepte postmoderner Theoretiker und förderte Skepsis gegenüber Fort-
schrittselan und traditioneller Sinnorientierung sowie Zweifel hinsichtlich ei-
ner kontinuierlichen historischen Weiterentwicklung. Seit den 1980er Jahren
schlossen verschiedene Autoren, darunter Vilem Flusser und Francis Fukuya-
ma, an derartige Mentalitäten an: Sie glaubten ihr eigenes Zeitalter sogar mit
dem Etikett ,Posthistoire‘ versehen zu können, das im Diskurs allerdings weit-
gehend kritisch rezipiert wurde. Zugleich hinterfragten sie Konzepte einer
Sinnstiftung durch Geschichte nach dem Prozess der gesellschaftlichen Ent-
wicklung zur liberalen Demokratie. In seinem Buch The End ofHistory and the
Last Man (dt.: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?) griff Fukuyama 1992
mit seinen Gesellschaftdiagnosen und Systemprognosen, die auch dekadenz-
kritische Aspekte mit einschließen, auf Hobbes, Locke, Hegel, Marx sowie auf
N. zurück. Dabei bezieht sich Fukuyama beispielsweise auf die in Also sprach
Zarathustra aus der Perspektive der Rollenfigur Zarathustra entworfene Vor-
stellung vom ,Letzten Menschen4 (vgl. KSA 4,19, 21 - 20, 26). Zur rezeptionsge-
schichtlichen Frage, ob N. tatsächlich als Vorläufer des Posthistoire-Diskurses
gelten kann, erwägen Dezsö Csejtei und Anikö Juhäsz Pro- und Contra-Argu-
mente (Csejtei/Juhäsz 2008, 49-58).
Im Hinblick auf UBII HL lässt sich feststellen, dass N.s Reflexionen über
ein ,Ende der Geschichte4 hier in einem kritisch akzentuierten Kontext stehen,
in dem er historische Endzeit-Vorstellungen mit säkularisierten Ideen der zeit-
genössischen Theologie verbunden sieht. Exemplarisch erhellt dies aus der fol-
genden Textpassage der Historienschrift: „Steckt nicht vielmehr in diesem läh-
menden Glauben an eine bereits abwelkende Menschheit das Missverständniss
einer, vom Mittelalter her vererbten, christlich theologischen Vorstellung, der
Gedanke an das nahe Weitende, an das bänglich erwartete Gericht? Umkleidet
sich jene Vorstellung wohl durch das gesteigerte historische Richter-Bedürf-
niss, als ob unsere Zeit, die letzte der möglichen, selbst jenes Weltgericht über
alles Vergangene abzuhalten befugt sei, welches der christliche Glaube keines-
wegs vom Menschen, aber von ,des Menschen Sohn4 erwartete?“ (304, 4-13).
Im Anschluss an diese rhetorischen Fragen führt N. den Gedankengang fort,
indem er Defätismus und Fortschrittsskepsis diagnostiziert: „ein tiefes Gefühl
von Hoffnungslosigkeit ist übrig geblieben und hat jene historische Färbung
 
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