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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0407
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 381

angenommen, von der jetzt alle höhere Erziehung und Bildung schwermüthig
umdunkelt ist. Eine Religion, die von allen Stunden eines Menschenlebens die
letzte für die wichtigste hält, die einen Schluss des Erdenlebens überhaupt
voraussagt und alle Lebenden verurtheilt, im fünften Akte der Tragödie zu
leben, regt gewiss die tiefsten und edelsten Kräfte auf, aber sie ist feindlich
gegen alles Neu-Anpflanzen, Kühn-Versuchen, Frei-Begehren, sie widerstrebt
jedem Fluge in’s Unbekannte“ (304, 22-31). Diese Zurückweisung säkularisier-
ter theologischer Endzeit-Vorstellungen allein legt allerdings noch keine Ver-
einnahmung von N.s UBII HL zugunsten des Posthistoire-Diskurses nahe.
Auch in Themenfeldern, in denen Affinitäten zu UB II HL zu erkennen sind,
bedürfen vorhandene Differenzen einer angemessenen Mitberücksichtigung.
Michel Foucault greift in mehreren Werken methodologisch auf N.s Histo-
rienschrift zurück, um sie für genealogische und historiographische Untersu-
chungen zu nutzen und sie zugleich im Sinne seiner eigenen Projekte kreativ
weiterzudenken. Dabei adaptiert er auch N.s Kritik an Geschichtskonzepten,
die einem strikten Objektivitätsanspruch folgen. Außerdem führt er N.s Per-
spektiven auf genealogische Prozesse fort, die Anlass zu historischen Relativie-
rungen geben. In Schriften wie L’ archeologie du savoir (Die Archäologie des
Wissens) oder L’ordre du discours (Die Ordnung der Dinge) rückt Foucault epis-
temologische Dimensionen und gesellschaftliche Machtstrukturen in den Fo-
kus, wie sie sich jeweils im Laufe der kulturhistorischen Entwicklung ausge-
prägt haben, und analysiert dabei auch repressive Tendenzen. Zugleich wendet
er sich gegen totalisierende Disziplinierungsversuche im Sinne eines Identi-
tätsdenkens. In seiner Schrift Nietzsche, la genealogie, l’histoire (Nietzsche, die
Genealogie, die Historie) konstatiert Foucault: „Le sens historique [...] reintro-
duit dans le devenir tout ce qu’on avait cru immortel chez l’homme“ (Foucault:
Dits et ecrits, Bd. 2, 1994, 147). Übersetzung: „Der historische Sinn [...] führt
alles wieder dem Werden zu, was man am Menschlichen für unsterblich gehal-
ten hatte“ (Foucault 1987, 77). Wiederholt hat Foucault im Laufe der Zeit die
Bedeutung N.s für seine eigenen Arbeiten hervorgehoben und dabei auch be-
tont, dass seine archäologische Forschung dem Einfluss N.s „weit mehr ver-
dankt als dem Strukturalismus im eigentlichen Sinne“ (Foucault: Dits et Ecrits,
2001, Bd. 1, 768). Zur Relevanz von N.s Historienschrift für Foucaults Arbeiten
zu einer kritischen Kulturgeschichte vgl. Le Rider 2001, 105-106.
Übereinstimmungen mit Konzepten, die N. in UB II HL und in späteren
Werken entfaltet, zeigt Foucault durch historische Relativierungen, ,serielle4
Geschichtsanalysen, das Prinzip des Perspektivischen und Vorbehalte gegen-
über totalisierenden geschichtsphilosophischen Ganzheitsidealen. Darüber hi-
naus plädiert er allerdings auch für Parodie anstelle von Erinnerung und für
die Zersetzung des Anspruchs auf Kontinuität, Identität und Wahrheit, um ei-
 
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