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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0409
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 383

schlussreichen Sonderfall der Wissensselektion: die „systematische Revolution
der Grundbegriffe“, wie sie im 20. Jahrhundert durch die Relativitätstheorie
von Albert Einstein bewirkt wurde. Zu Umbrüchen solcher Art schreibt Bache-
lard in seinem Text Die philosophische Dialektik in der Begriffswelt der Relativi-
tät: „In der Wissenschaft vollzieht sich nun das, was Nietzsche ein ,Begriffsbe-
ben4 genannt hat, so als ob die Erde, das Universum, die Dinge eine andere
Struktur bekommen hätten, seitdem ihre Erklärung auf neuen Fundamenten
ruht. Die ganze rationale Organisation ,bebt‘, wenn die Grundbegriffe einer
dialektischen Wandlung unterzogen werden“ (Bachelard 1955, 413). Mit seiner
Charakterisierung wissenschaftlicher Revolutionen bezieht sich Bachelard auf
das 10. Kapitel von UB II HL, und zwar auf N.s Überlegungen zu einem „B e -
griffsbeben, das die Wissenschaft erregt, dem Menschen das Fundament
aller seiner Sicherheit und Ruhe, den Glauben an das Beharrliche und Ewige,
nimmt“ und „das Leben selbst [...] schwächlich und muthlos“ werden lässt
(330, 26-29).
Die „systematische Revolution der Grundbegriffe“, die Bachelard mit N.s
metaphorischem Ausdruck „Begriffsbeben“ (330, 27) aus UBIIHL zum
Thema macht (Bachelard 1955, 413), entsteht auf der Basis von Umbruchserfah-
rungen, die man mit revolutionären Erkenntnissen von Forscherpersönlichkei-
ten wie Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei oder Albert Einstein assoziiert.
Im Anschluss an Thomas S. Kuhns wissenschaftstheoretisches Hauptwerk The
Structure of Scientiflc Revolutions (1962) spricht man heutzutage von wissen-
schaftlichem ,Paradigmenwechsel‘. - In Bachelards Darlegungen fällt aller-
dings auf, dass er den spezifischen Kontext von N.s Metapher ,Begriffsbeben4
vernachlässigt, die in UB II HL pejorativ konnotiert ist, weil N. hier eine Pro-
blemkonstellation beschreibt, der er den Primat des Lebens entgegenhält (vgl.
330, 23 - 331, 6): Laut N. bricht durch ein solches ,Begriffsbeben4 in der Wissen-
schaft „das Leben selbst in sich zusammen und wird schwächlich und muth-
los“, weil der Mensch dadurch „das Fundament aller seiner Sicherheit und
Ruhe“ verliert, also „den Glauben“ an das „Ewige“ (330, 26-29), mithin an eine
Orientierung schaffende Kontinuität. Indem Bachelard N.s Metapher Begriffs-
beben4 für seine eigene Aussageintention umkodiert, neutralisiert er zugleich
die kontextbedingten negativen Implikationen, die N. dieser Metapher in
UB II HL eingeschrieben hat. Und da wissenschaftliche Revolutionen bekannt-
lich Erkenntnisfortschritte bewirken, die bis zu technologischen Innovationen
und nachhaltigen Verbesserungen der Existenzgrundlage einer ganzen Gesell-
schaft reichen können, erscheint es naheliegend, N.s Ausdruck ,Begriffsbeben4
in diesem Sinne auch eine positive Bedeutung zuzuschreiben. Zum metaphori-
schen Gebrauch der Begriffe ,Erdbeben4 und ,Revolution4 bei N. generell vgl.
die Hintergründe in NK 330, 23-29 sowie NK 369, 12-15 und NK 504, 18-21.
 
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