404 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
ren Bedeutung ,übertrieben4 bzw. ,überspannt4, ,überzogen4 und überträgt den
ursprünglich auf physische Phänomene bezogenen Begriff zugleich in die geis-
tige Sphäre. Dabei richtet sich sein Fokus auf ethische Kategorien, so dass der
konkrete Wortsinn in den Bereich des Abstrakten transferiert wird. - Bildhaft-
konkret gestaltet N. diese Vorstellung aus, wenn er in einer späteren Passage
von der „Ueberwucherung des Lebens durch das Historische44 spricht (331, 8-
9). Allerdings evoziert er damit den Gedanken an ein hypertrophes Pflanzen-
wachstum. Auf diese Weise veranschaulicht er ausgerechnet die Problematik
der seines Erachtens potentiell lebensfeindlichen Historie durch die Vorstel-
lung exzessiver vitaler Prozesse im Bereich des Vegetabilischen. Zugleich nä-
hert er sich dadurch dem ursprünglichen Wortsinn von ,Hypertrophie4 wieder
an. Die Relevanz dieses Vorstellungskomplexes erhellt auch aus einem nachge-
lassenen Notat zur Konzeption von UBII HL: Denn im Entwurf einer Gesamt-
disposition plante N. im Anschluss an die Darstellung der monumentalischen
und antiquarischen Historie: „III Wirkungen der Hypertrophie“ (NL 1873, 29
[90], KSA 7, 672).
246, 31-32 der historische Sinn unserer Zeit] In Werken verschiedener Schaf-
fensphasen reflektiert N. mit kulturkritischer Intention über den historischen
Sinn4. Vor der Konzeption von UB II HL macht er bereits in der Geburt der Tra-
gödie (1872) den „historischen [...] Sinn“ zum Thema (KSA 1, 145, 7-8). Und in
Ecce homo (1888) erklärt er im Rückblick auf UB II HL: Hier „wurde der histori-
sche Sinn4, auf den dies Jahrhundert stolz ist, zum ersten Mal als Krankheit
erkannt, als typisches Zeichen des Verfalls“ (KSA 6, 316, 20-22). Anders gestal-
tet sich die Retrospektive im Text 337 der Fröhlichen Wissenschaft (1882), in
dem N. vom imaginären Standpunkt der Zukunft aus auf das eigene Zeitalter
zurückschaut. Dabei erscheint ihm ,der historische Sinn4 einerseits (analog zu
UB II HL) als Krisensymptom der Epoche, andererseits sieht er mit ihm zu-
gleich auch zukunftsweisende Möglichkeiten verbunden: „Wenn ich mit den
Augen eines fernen Zeitalters nach diesem hinsehe, so weiss ich an dem gegen-
wärtigen Menschen nichts Merkwürdiges zu finden, als seine eigenthümliche
Tugend und Krankheit, genannt ,der historische Sinn4. Es ist ein Ansatz zu
etwas ganz Neuem und Fremdem in der Geschichte“ (KSA 3, 564, 13-18). Ob-
wohl N. den historischen Sinn4 hier auch als pathologisches Phänomen cha-
rakterisiert, verknüpft er mit ihm zugleich die Hoffnung auf zukunftsweisende
Impulse, die seines Erachtens „Jahrhunderte“ später zu einer beglückenden
„Menschlichkeit“ führen können (vgl. KSA 3, 564, 18-25; 565, 3-30), wenn-
gleich der Status quo dafür bislang kaum Anzeichen zu bieten scheint: Denn
„der historische Sinn ist noch etwas so Armes und Kaltes, und Viele werden
von ihm wie von einem Froste befallen und durch ihn noch ärmer und kälter
gemacht. Anderen erscheint er als das Anzeichen des heranschleichenden Al-
ren Bedeutung ,übertrieben4 bzw. ,überspannt4, ,überzogen4 und überträgt den
ursprünglich auf physische Phänomene bezogenen Begriff zugleich in die geis-
tige Sphäre. Dabei richtet sich sein Fokus auf ethische Kategorien, so dass der
konkrete Wortsinn in den Bereich des Abstrakten transferiert wird. - Bildhaft-
konkret gestaltet N. diese Vorstellung aus, wenn er in einer späteren Passage
von der „Ueberwucherung des Lebens durch das Historische44 spricht (331, 8-
9). Allerdings evoziert er damit den Gedanken an ein hypertrophes Pflanzen-
wachstum. Auf diese Weise veranschaulicht er ausgerechnet die Problematik
der seines Erachtens potentiell lebensfeindlichen Historie durch die Vorstel-
lung exzessiver vitaler Prozesse im Bereich des Vegetabilischen. Zugleich nä-
hert er sich dadurch dem ursprünglichen Wortsinn von ,Hypertrophie4 wieder
an. Die Relevanz dieses Vorstellungskomplexes erhellt auch aus einem nachge-
lassenen Notat zur Konzeption von UBII HL: Denn im Entwurf einer Gesamt-
disposition plante N. im Anschluss an die Darstellung der monumentalischen
und antiquarischen Historie: „III Wirkungen der Hypertrophie“ (NL 1873, 29
[90], KSA 7, 672).
246, 31-32 der historische Sinn unserer Zeit] In Werken verschiedener Schaf-
fensphasen reflektiert N. mit kulturkritischer Intention über den historischen
Sinn4. Vor der Konzeption von UB II HL macht er bereits in der Geburt der Tra-
gödie (1872) den „historischen [...] Sinn“ zum Thema (KSA 1, 145, 7-8). Und in
Ecce homo (1888) erklärt er im Rückblick auf UB II HL: Hier „wurde der histori-
sche Sinn4, auf den dies Jahrhundert stolz ist, zum ersten Mal als Krankheit
erkannt, als typisches Zeichen des Verfalls“ (KSA 6, 316, 20-22). Anders gestal-
tet sich die Retrospektive im Text 337 der Fröhlichen Wissenschaft (1882), in
dem N. vom imaginären Standpunkt der Zukunft aus auf das eigene Zeitalter
zurückschaut. Dabei erscheint ihm ,der historische Sinn4 einerseits (analog zu
UB II HL) als Krisensymptom der Epoche, andererseits sieht er mit ihm zu-
gleich auch zukunftsweisende Möglichkeiten verbunden: „Wenn ich mit den
Augen eines fernen Zeitalters nach diesem hinsehe, so weiss ich an dem gegen-
wärtigen Menschen nichts Merkwürdiges zu finden, als seine eigenthümliche
Tugend und Krankheit, genannt ,der historische Sinn4. Es ist ein Ansatz zu
etwas ganz Neuem und Fremdem in der Geschichte“ (KSA 3, 564, 13-18). Ob-
wohl N. den historischen Sinn4 hier auch als pathologisches Phänomen cha-
rakterisiert, verknüpft er mit ihm zugleich die Hoffnung auf zukunftsweisende
Impulse, die seines Erachtens „Jahrhunderte“ später zu einer beglückenden
„Menschlichkeit“ führen können (vgl. KSA 3, 564, 18-25; 565, 3-30), wenn-
gleich der Status quo dafür bislang kaum Anzeichen zu bieten scheint: Denn
„der historische Sinn ist noch etwas so Armes und Kaltes, und Viele werden
von ihm wie von einem Froste befallen und durch ihn noch ärmer und kälter
gemacht. Anderen erscheint er als das Anzeichen des heranschleichenden Al-