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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0465
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Stellenkommentar UB II HL 2, KSA 1, S. 259 439

Glaube der Ruhmbegierde sich erfülle, das ist der Grundgedanke der Kultur.
[...] Wer möchte unter ihnen jenen schwierigen Fackelwettlauf vermuthen,
durch den das Große allein weiterlebt? Und doch erwachen immer wieder Eini-
ge, die sich, im Hinblick auf jenes Große, so beseligt fühlen, als ob das Men-
schenleben eine herrliche Sache sei und als ob es als schönste Frucht dieses
bitteren Gewächses gelten müsse, zu wissen daß einmal einer stolz und stoisch
durch dieses Dasein gegangen ist, ein anderer mit Tiefsinn, ein dritter mit Er-
barmen, alle aber eine Lehre hinterlassend, daß der das Dasein am schönsten
lebt, der es nicht achtet“ (KSA 1, 756, 9 - 757, 3).
In einer Textvorstufe substituiert N. den hier durch Sperrung hervorge-
hobenen Begriff der ,Kultur4 durch den der ,Bildung4: „Diese ununterbrochene
Kette großer Momente, dieser Höhenzug, durch Jahrtausende sich verbindend,
nennen wir Bildung. Daß für mich das Große einer vergangenen Zeit noch
groß ist, daß der ahnende Glaube der Ruhmbegierde sich erfülle, das ist aber
eine Aufgabe, das Problem der Bildung, bedingt durch die Schwierigkeit ih-
rer Tradition“ (KSA 14, 107). Während die in UB II HL abgedruckte Textver-
sion den Akzent vorrangig auf die Kultur der Gesamtgesellschaft legt, bringt
die Textvorstufe den engeren Horizont individuellen Ehrgeizes stärker zur Gel-
tung, wie die Verbindung der „Ruhmbegierde“ mit dem Bildungsgedanken er-
kennen lässt. Zugleich wird auch deutlich, dass N. an etablierte Standards der
Mentalitätsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert anschließt, indem er den Be-
griff der ,Kultur4 auf die gebildete Gesellschaft bezieht, den Begriff der Bil-
dung4 hingegen auf das kultivierte Individuum (vgl. dazu Hoyer 2002, 286). Zur
Ketten-Metaphorik vgl. NK 248, 18-20.
Wahrscheinlich greift N. im vorliegenden Kontext auch auf einen Gedan-
ken aus der Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man
Universalgeschichte? zurück, die Schiller am 26. Mai 1789 an der Universität
Jena gehalten hat. Im Zusammenhang mit dem Menschen, der autonom „dem
Ruf seines Genius zu folgen“ imstande ist, erklärt Schiller: „Alle denkenden
Köpfe verknüpft jetzt ein weltbürgerliches Band“ (Schiller: FA, Bd. 6, 419). Und
bereits das idealistische Plädoyer in der Schlusspassage von Schillers Antritts-
vorlesung enthält die metaphorische Vorstellung der Kette, die dann auch N.
verwendet: „Ein edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Ver-
mächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt über-
kamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus
unsern Mitteln einen Beitrag zu legen, und an dieser unvergänglichen Kette,
die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu
befestigen“ (vgl. ebd., 431). - Wörtlich zitiert N. in UB II HL (291, 12-18) aus
Schillers Antrittsvorlesung (vgl. dazu NK 291, 12-18). N.s bildhafte Vorstellung
einer geistesaristokratischen Höhenexistenz zeigt deutliche Affinitäten aller-
 
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