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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0468
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442 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Seit 1857 hielt Johann Gustav Droysen Vorlesungen, die nach vielfältigen
Umarbeitungen in seine Historik eingingen. Er konzipierte die Geschichtswis-
senschaft als eine ,verstehende4 Geisteswissenschaft, die sich nicht in Quellen-
kritik und im Sammeln von Daten und Fakten erschöpfen dürfe, weil sich da-
raus nur ein diskontinuierliches Aneinanderreihen von „Geschichten“, aber
keine „Geschichte“ ergebe. Droysen forderte demgegenüber das Erkennen von
Kontinuitäten in der Geschichte. Denn so erst zeige sich ein Verstehen, das den
gestaltenden Geist des genuinen Historikers voraussetze: „Der Historiker ist,
was er sein will, um so mehr als er die größere und entwickeltere Fähigkeit
des Verstehens hat. Je mehr er die mannigfaltigen Formgebungen, die Zeugnis
von dem geistig Durchlebten geben, zu verstehen und, wenn ich so sagen darf,
zu lesen vermag, desto tiefer erschließt sich ihm das Verständnis der Dinge“
(Droysen: Historik, 1977, 28).
Von diesem hermeneutischen Ansatz ausgehend, konstatiert Droysen: „Der
tiefer Denkende wird das Bedürfnis fühlen, sich nicht bloß im Allgemeinen,
sondern bei jedem wesentlichen Punkt des Zusammenhangs und der Kontinui-
tät desselben bewußt zu werden. [...] Mit dieser Verwendung der historischen
Ergebnisse auf den gegebenen Fall kehrt die Darstellung sich gleichsam um:
Denn von dem Hier und Jetzt ausgehend, um die Vergangenheiten zu rekon-
struieren und, wie wir das Bild brauchten, wieder aufleuchten zu lassen, sam-
melt sie nun diese Scheine, um Gegenwärtiges unter neuem Licht zu zeigen,
es durch sein Gewordensein aufzuklären und in seiner vollen Bedeutung er-
scheinen zu lassen“ (ebd., 221). Laut Droysen erhellt daraus „die Bedeutung
der betrachtenden Darstellungsform. Allerdings erarbeiten und erforschen wir
immer wieder von der Fülle der Gegenwart aus die Vergangenheiten; aber die
so gewonnene Erkenntnis und Gewißheit dürfen wir, wie man das Licht in
einem Hohlspiegel auffaßt, um einen einzelnen Punkt in dessen Fokus desto
heller zu beleuchten, zurückstrahlen machen auf die jedesmalige Frage der
Gegenwart. Es heißt dies nichts anders als das Bewußtsein ihres historischen
Zusammenhangs, ihre Stelle in der Kontinuität des Werdens feststellen“ (ebd.,
269-270). - Diese von Droysen betonte Kontinuität betrachtet der Droysen-
Schüler Burckhardt als Erzeugnis des kulturschaffenden Geistes. Das Erfassen
solcher Kontinuität sieht er letztlich als eine poetische Leistung an (vgl.
NK 292, 25-28). Sie ermögliche einen kulturellen Besitz, den es zu bewahren
gelte.
260, 32-34 um der in Deutschland gerade jetzt modisch gewordenen Gebildet-
heit den Garaus zu machen] In seinen Frühschriften kontrastiert N. wiederholt
die genuine, lebendige ,Bildung4 mit einer sterilen, veräußerlichten Gebildet-
heit4. Damit folgt er der Auffassung Richard Wagners, der in seiner Schrift Über
das Dirigiren im Rahmen einer Polemik gegen den Komponisten und Dirigenten
 
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