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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0476
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450 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

262, 27-29 die goldene Hüfte, welche die Schüler des Pythagoras an ihrem
Meister erkennen wollten] Schüler des Pythagoras stellten die Behauptung auf,
ihr Lehrer habe eine goldene Hüfte bzw. einen goldenen Schenkel besessen,
und deuteten diese Besonderheit als Signum der quasi-göttlichen Unsterblich-
keit und Schönheit, die unter seiner sterblichen Hülle verborgen sei. Diese Per-
spektive ist von der altgriechischen Auffassung bestimmt, alles, was die Götter
direkt umgebe, sei golden. Einer Legende zufolge soll sich Pythagoras selbst
als der in menschlicher Gestalt reinkarnierte Gott Apollon ausgegeben haben.
263, 23-24 der politische Kannegiesser] Dieser Ausdruck bezeichnet einen po-
litischen Schwätzer, jemanden, dessen Ideen sich auf das große Ganze richten,
die konkrete Realität jedoch unberücksichtigt lassen. Der Begriff geht zurück
auf das 1722 in Kopenhagen uraufgeführte Lustspiel Den politiske kandestöber
(,Der politische Kannegießer4) des dänischen Komödiendichters Ludvig Hol-
berg (1684-1754).
264,15-20 Die monumentalische Historie ist das Maskenkleid, in dem sich ihr
Hass gegen die Mächtigen und Grossen ihrer Zeit für gesättigte Bewunderung der
Mächtigen und Grossen vergangener Zeiten ausgiebt, in welchem verkappt sie
den eigentlichen Sinn jener historischen Betrachtungsart in den entgegengesetz-
ten umkehren] Indem N. hier die heimlichen Motive mediokrer Existenzen frei-
legt, entfaltet er ansatzweise bereits seine Vorstellung vom „Ressentiment“, der
er später in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral größeres Gewicht verleiht
(vgl. z. B. KSA5, 274, 278, 279, 282, 368-370). Diejenigen, die ihre Aversion
gegen die bedeutenden Individuen ihrer eigenen Epoche hinter der Maske ei-
ner vordergründigen Bewunderung für das vergangene Große zu verbergen
versuchen, folgen laut N. zugleich der Maxime: „lasst die Todten die Lebendi-
gen begraben“ (264, 22). Auf diese Weise gefährden sie das Wirkungsprinzip
der ,monumentalischen Historie4, die auf eine geschichtliche Kontinuität gro-
ßer Individuen und damit letztlich auf den „Höhenzug der Menschheit durch
Jahrtausende“ zielt (259, 13-14). Gerade an der „Forderung, dass das Grosse
ewig sein solle, entzündet sich der furchtbarste Kampf“, wenn die „dumpfe
Gewöhnung, das Kleine und Niedrige“ den Weg blockiert, „den das Grosse zur
Unsterblichkeit zu gehen hat“ (259,19-25): „Denn alles Andere, was noch lebt,
ruft Nein. Das Monumentale soll nicht entstehen - das ist die Gegenlosung“
(259, 20-22). Indem die mediokren Existenzen nach N.s Auffassung die Entfal-
tung von Größe durch ihren Widerstand behindern, schaden sie der kulturellen
Entwicklung in der Zukunft.
Theodor Lessing geht in mehreren Büchern auf N. und auf UB II HL ein
(vgl. dazu detaillierter die Lessing-Passage in Kapitel II.8 des Überblickskom-
mentars). In seinem Werk Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. Oder die
 
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