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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0479
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Stellenkommentar UB II HL 3, KSA 1, S. 264-266 453

266, 1 Palimpseste, ja Polypseste] Antike oder mittelalterliche Schriftstücke,
von denen der ursprüngliche Text getilgt wurde, um sie neu beschreiben zu
können. Vor der Erfindung des Papiers in der frühen Neuzeit verwendete man
Papyrus oder Pergament. Weil beides knapp und teuer war, schabte man oft
die ursprüngliche Schrift wieder weg, um die Fläche erneut beschriften zu kön-
nen. Geschah dies einmal, so handelte es sich um einen Palimpsest, im Falle
mehrerer Überschreibungen um einen Polypsest.
266, 2-6 Goethe vor dem Denkmale Erwin’s von Steinbach; in dem Sturme sei-
ner Empfindung zerriss der historische zwischen ihnen ausgebreitete Wolken-
schleier: er sah das deutsche Werk zum ersten Male wieder, „wirkend aus starker
rauher deutscher Seele.“] Goethe betrachtete das Straßburger Münster als das
eigentliche Denkmal des Architekten Erwin von Steinbach, dem er durch sei-
nen Aufsatz Von deutscher Baukunst auch ein literarisches Denkmal setzen
wollte. In diesem Text hebt der Sturm-und-Drang-Autor Goethe zugleich mit
identifikatorischem Gestus die Kreativität eines paradigmatischen Genies her-
vor. N. zitiert im vorliegenden Kontext aus Goethes Text Von deutscher Bau-
kunst. D. M. Ervini A Steinbach (1773): „Hier steht sein Werk, tretet hin, und
erkennt das tiefste Gefühl von Wahrheit und Schönheit der Verhältnisse, wür-
kend aus starker, rauher, deutscher Seele, auf dem eingeschränkten düstern
Pfaffenschauplatz des medii aevi“ (Goethe: FA, Bd. 18, 117). Während der Ent-
stehungszeit von Goethes Aufsatz Von deutscher Baukunst galt die Gotik - ähn-
lich wie später auch die Romantik - als Ausdruck eines spezifisch deutschen
Wesens. Indem N. betont „er sah das deutsche Werk zum ersten Male wieder“,
spielt er zugleich auch darauf an, dass diese Wahrnehmung auf eine lange
Phase der Verkennung folgte. Denn in früherer Zeit wurde die Gotik oft ab-
schätzig beurteilt, ja sogar als ,barbarisch4 angesehen. Der italienische Begriff
,gotico‘ bedeutet: ,barbarisch4, ,nicht antik4.
Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche
Denkmäler als Monumente einer historisierenden nationalen Erinnerungskul-
tur errichtet, die auf die Memoria künftiger Generationen zielt. Beispielsweise
galt das Jubiläum zum 100. Geburtstag Schillers, das im Jahre 1859 in großem
Stil durch Gedenkfeiern und Schiller-Statuen gewürdigt wurde, in diesem Sin-
ne als ein nationales Ereignis. Die von N. im vorliegenden Kontext zur Sprache
gebrachte Denkmal-Kultur fördert Memoria im Sinne der von ihm in UB II HL
beschriebenen ,monumentalischen Historie4, die „das vergangene Grosse“ (259,
33) als zur Nachahmung inspirierendes Vorbild, mithin auch als Stimulans
für die „Thätigen und Mächtigen“ beim Ringen um eigene Größe nutzt (258,
13-14). Über die Inszenierung und Glorifizierung historisch verbürgter ,Größe4
hinaus schließt die ,monumentalische Historie4 im Sinne N.s insofern ein spezi-
fisches Potential für die kulturelle Entfaltung in Gegenwart und Zukunft mit
 
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