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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0499
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Stellenkommentar UB II HL 4, KSA 1, S. 275 4 73

de der Bildung abgeartet, denn er will die allgemeine Krankheit weglügen und
ist den Ärzten hinderlich“ (KSA 1, 366, 17-20). Diese Pathologisierung von Kul-
turphänomenen schließt an Vorstellungen von Entartung und Degeneration in
N.s Geburt der Tragödie an. Vgl. dazu NK 366, 18-20. Analog zu Richard Wag-
ner kritisiert N. in UB IV WB den Typus des sogenannten „Gebildeten“ als Ver-
treter einer degenerierten Kultur und als den großen „Feind“ Bayreuths (KSA 1,
450, 8-9).
In UB I DS betrachtet N. die von genuiner ,Bildung4 abgegrenzte bloße Ge-
bildetheit4 sogar als kompatibel mit „der Barbarei“: „Vieles Wissen und Gelernt-
haben ist aber weder ein nothwendiges Mittel der Kultur, noch ein Zeichen
derselben und verträgt sich nöthigenfalls auf das beste mit dem Gegensätze
der Kultur, der Barbarei, das heisst: der Stillosigkeit oder dem chaotischen
Durcheinander aller Stile“ (KSA 1, 163, 4-8). N. sieht,Bildung4 wie ,Kultur4 in
positivem Sinne durch Homogenität ausgezeichnet, durch die „Einheit des
künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes“ (KSA 1,163, 3-
4). Dadurch betont er den Kontrast zur „chaotischen“ Melange von Stilen, die
seines Erachtens für die „moderne Jahrmarkts-Buntheit“ seiner eigenen, dem
Historismus verfallenen Epoche charakteristisch ist (KSA 1, 163, 22-23). - Im
fünften seiner nachgelassenen Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsan-
stalten kritisiert N. die Strategie der „Jünger der Jetztzeit4“, den „naturgemä-
ßen philosophischen Trieb durch die sogenannte ,historische Bildung4 zu para-
lysiren“ (KSA 1, 742,11-14). Diese Argumentationslinie führt N. in UB II HL fort,
wo er die problematischen Folgen einer historisierenden Bildungskultur dann
sogar zum Zentralthema avancieren lässt. Ähnlich wie in UB I DS polemisiert
N. auch in den Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern gegen die „G e -
bildeten“ und die „P h i 1 i s t e r“ (KSA 1, 779, 34 - 780, 2). - Zum begrifflichen
Spannungsfeld zwischen Gebildetheit, Bildung, Kultur und Barbarei vgl. aus-
führlicher NK 161, 2-3.
Eine Kontinuität zwischen Früh- und Spätwerk zeichnet sich im Hinblick
auf das Verdikt N.s über den zeitgenössischen Status quo von Erziehung und
Bildung ab, das sich über UB II HL und UB III SE hinaus bis in kulturkritische
Bemerkungen der Götzen-Dämmerung prolongiert. Hier führt N. die kulturelle
Krisensituation seiner eigenen Epoche maßgeblich auf einen Mangel an genui-
nen Erziehern zurück: „Dass Erziehung, Bildung selbst Zweck ist [...], dass
es zu diesem Zweck der Erzieher bedarf - und nicht der Gymnasiallehrer
und Universitäts-Gelehrten - man vergass das ... Erzieher thun noth, die
selbst erzogen sind, überlegene, vornehme Geister [...], reife, süss gewor-
dene Culturen [...]. Die Erzieher fehlen, die Ausnahmen der Ausnahmen abge-
rechnet, die erste Vorbedingung der Erziehung: daher der Niedergang der
deutschen Cultur“ (KSA 6, 107, 7-17). Obwohl N. zu Schopenhauer als seinem
 
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