Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0500
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
474 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

eigenen „Erzieher und Bildner“ (KSA 1, 341, 22) mittlerweile längst auf Distanz
gegangen ist, schließt er auch in der Götzen-Dämmerung noch implizit an Scho-
penhauers geistesaristokratische Position und an sein Verdikt über die Univer-
sitätsgelehrten an, und zwar mit der kritischen Zeitdiagnose, anstelle genuiner
Bildung dominiere „eine brutale Abrichtung, um, mit möglichst geringem Zeit-
verlust, eine Unzahl junger Männer für den Staatsdienst nutzbar, ausnutz-
bar zu machen.,Höhere Erziehung4 und Unzahl - das widerspricht sich von
vornherein. Jede höhere Erziehung gehört nur der Ausnahme“ (KSA 6, 107, 21-
26). Zum weitreichenden Einfluss von Schopenhauers Schrift Ueber die Univer-
sitäts-Philosophie auf UB III SE vgl. die Belege in Kapitel III.4 des Überblicks-
kommentars zu UB III SE.
275, 7-8 Ich will nur geradezu von uns Deutschen der Gegenwart reden] Oft
wird das Wort „geradezu“ in älterer Zeit noch mit der Bedeutung „direkt“ ver-
wendet.
275,15-17 In dieser Angst verliess der Deutsche die Schule der Franzosen: denn
er wollte natürlicher und dadurch deutscher werden.] Im 17. Jahrhundert und bis
weit ins 18. Jahrhundert hinein erwies sich die höfische französische Kultur als
stilprägend. Sie legte besonderen Wert auf die normierte Form, betonte die
Bedeutung der „Regeln“ und galt als Vorbild für die ebenfalls noch stark hö-
fisch ausgerichtete deutsche Kultur. N. pointiert dies mit dem Begriff der „Con-
vention“ (275, 11-15). Erst durch das Erstarken des Bürgertums in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts emanzipierten sich Klopstock, Lessing und Herder
sowie auf radikalere Weise dann auch die jungen Dichter der Sturm-und-
Drang-Periode von der kulturellen Vorherrschaft Frankreichs, die man nun als
Überfremdung empfand. Mit einem national geprägten und zugleich antihöfi-
schen Habitus betonten sie ihre deutsche Eigenständigkeit und beriefen sich
deshalb auf das „Volk“. Diese Emanzipation verband sich zugleich mit einer
Abkehr von französischem Formbewusstsein. In der Romantik verstärkte sich
die nationale Bewegung unter dem Eindruck der napoleonischen Eroberungs-
kriege. Eine noch energischere Rebellion gegen alles Französische hatten dann
die Befreiungskriege zur Folge. In dieser nationalen und romantischen Tradi-
tion steht auch Wagner, dessen theoretische Schriften von seiner dezidiert anti-
französischen und überhaupt antiromanischen Haltung sowie von einer gene-
rellen Deutschtümelei zeugen.
Einen neuen Höhepunkt erreichte die nationalistische Reaktion in der Zeit
des deutsch-französischen Krieges 1870/71. Zur gleichen Zeit forcierte auch
Wagner seine antiromanische Deutschtümelei, etwa 1870 in seiner Festschrift
zum 100. Geburtstag Beethovens. N. rühmt sie schon in dem Vorwort an Ri-
chard Wagner, das er der Geburt der Tragödie voranstellte (KSA 1, 23,19). Diese
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften