Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0501
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar UB II HL 4, KSA 1, S. 275-276 475

in hohem Maße durch den Einfluss Wagners geprägte Schrift lässt mitunter
auch Tendenzen zu einer nationalistischen Mentalität erkennen, die ebenfalls
zur Verherrlichung des deutschen Wesens4 und des deutschen Geistes4 bei-
trug. Schon bald aber rückte N. dezidiert von diesen Tendenzen ab, um sich
wieder der französischen Kultur anzunähern. Vor diesem kulturhistorischen
Horizont zeugt der vorliegende Passus bereits von der beginnenden Revision
der früheren Position.
275, 27-30 Man durchwandere eine deutsche Stadt - alle Convention, vergli-
chen mit der nationalen Eigenart ausländischer Städte, zeigt sich im Negativen,
alles ist farblos, abgebraucht, schlecht copirt, nachlässig] Diese urbanen Cha-
rakteristika betrachtet N. als typisch für die Tendenz der Deutschen zum „Sich-
gehenlassen44, zur „Bequemlichkeit44 (275, 26), die er im vorliegenden Kontext
kritisiert. Ausführlicher geht N. im folgenden Nachlass-Notat aus der Entste-
hungszeit von UB II HL auf diese Problematik ein: „In Deutschland ist die
Furcht vor der Convention epidemisch. Aber bevor es zu einem nationalen
Stile kommt, ist eine Convention nöthig. Dazu lebt man doch in einer bumme-
lig-inkorrecten Convention, wie all unser Gehen Stehen Unterhalten anzeigt.
Es scheint, man will die Convention, die am wenigsten Selbstüberwindung
kostet, bei der jeder recht schlampen kann. Die Historie ist freilich sehr gefähr-
lich, indem sie alle Conventionen neben einander zur Vergleichung
stellt [...]. / Man gehe durch eine deutsche Stadt — alle Convention, verglichen
mit anderen Nationen, zeigt sich im Negativen, alles ist farblos, bummelig,
abgelebt, jeder treibt es nach Belieben, aber nicht nach einem kräftigen gedan-
kenreichen Belieben, sondern nach der Bequemlichkeit, die unsre Kleidung
bereits als Hauptrücksicht anklagt. Zudem will man keine Zeit verlieren, denn
man ist in Hast. Nur die Convention ist gebilligt, die dem Faulen-Hastigen
gemäss ist. / Es ist wie beim Christenthum; der Protestantismus rühmt sich,
dass Alles innerlich geworden ist: darüber ist die Sache verloren gegangen. So
ist bei dem Deutschen alles innerlich, man sieht aber auch nichts mehr davon“
(NL 1873, 29 [121], KSA 7, 686-687).
276, 4-6 Der Formensinn wird von ihnen geradezu ironisch abgelehnt - denn
man hat ja den Sinn des Inhaltes: sind sie doch das berühmte Volk der
Innerlichkeit.] Hier distanziert sich N. sowohl von Prämissen der Gehaltsästhe-
tik als auch von der romantischen Tradition der Innerlichkeit - und damit indi-
rekt auch von der Grundtendenz Wagners und eigenen früheren Überzeugun-
gen. Allerdings erweisen sich N.s Einschätzungen in dieser Hinsicht nicht
immer als eindeutig. So betont er auch, die „Hoffnung auf eine noch kommen-
de nationale Cultur“ entspringe aus einem „Glauben an die Aechtheit und Un-
mittelbarkeit der deutschen Empfindung“ und „an die unversehrte Innerlich-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften