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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0509
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Stellenkommentar UB II HL 5, KSA 1, S. 281-282 483

282, 3-4 die wahrhaftigste aller Wissenschaften, die ehrliche nackte Göttin Phi-
losophie] In bewusstem Kontrast zu der zuvor kritisierten „Maske“ und „Maske-
rade“ (281, 6, 29) sowie zur „Lüge“ (281, 33) des Kulturbetriebs betont N. hier
die Nacktheit der Philosophie. Dadurch verpflichtet er die Philosophie implizit
auf Wahrheit und „Wahrhaftigkeit“ (281, 26). Zugleich spielt N. auch auf die
metaphorische Redensart von der ,nackten Wahrheit4 an, auf die Schopenhau-
er in seinen Werken wiederholt und mit Nachdruck zu sprechen kommt. In der
Vorrede zur zweiten Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung I formuliert
Schopenhauer die rhetorische Frage: „Was nun, in aller Welt, geht meine [...]
rücksichtslose und nahrungslose, grüblerische Philosophie, - welche zu ihrem
Nordstern ganz allein die Wahrheit, die nackte, unbelohnte, unbefreundete,
oft verfolgte Wahrheit hat und, ohne rechts oder links zu blicken, gerade auf
diese zusteuert, - jene alma mater, die gute, nahrhafte Universitätsphilosophie
an, welche, mit hundert Absichten und tausend Rücksichten belastet, be-
hutsam ihres Weges daherlavirt kommt“ (WWVI, Vorrede zur 2. Auflage,
Hü XXVIII).
In der Welt als Wille und Vorstellung II erklärt Schopenhauer, dass „der
liebste Schmuck der Wahrheit die Nacktheit“ ist (WWV II, Kap. 37, Hü 490).
Und in den Parerga und Paralipomena II wird im Kapitel „Ueber Religion“ in
einem fiktiven Dialog die „wahre Philosophie“ mit der ,,nackte[n] Wahrheit“
korreliert: in der utopischen Perspektive auf eine Zukunft, in der die Mensch-
heit ein Entwicklungsstadium erreicht hat, das sie dazu befähigt, „die wahre
Philosophie einerseits hervorzubringen und andererseits aufzunehmen [...]: die
nackte Wahrheit muß so einfach und faßlich seyn, daß man sie in ihrer wahren
Gestalt Allen muß beibringen können“ (PP II, Kap. 15, § 174, Hü 357). Im selben
Werk heißt es an späterer Stelle: „Die Wahrheit ist nackt am schönsten“ (PP II,
Kap. 23, §283, Hü 556). Ähnlich äußert sich Schopenhauer auch in seiner
Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie, die maßgeblichen Einfluss auf
UB III SE hatte (vgl. dazu den Vergleich beider Schriften in Kapitel III.4 des
Überblickskommentars zu UB III SE).
Martin Heidegger zitiert N.s Formulierung „die wahrhaftigste aller Wissen-
schaften, die ehrliche nackte Göttin Philosophie“ in seinen Aufzeichnungen
zur Vorbereitung eines (im Wintersemester 1938/39 an der Universität Freiburg
abgehaltenen) Seminars zu N.s UB II HL (Heidegger, Bd. 46, 2003,130). Im nä-
heren Umfeld dieses Zitats hinterfragt Heidegger die Relation zwischen Wis-
senschaft und Philosophie: „Höchste Wahrhaftigkeit“ sieht er nur dann gewähr-
leistet, „wenn Wissen um Wesen und Wesensnotwendigkeiten der Wahrheit,
dann Möglichkeit der ,Kritik4, des Maß und Rang setzenden Wissens“ vorliegt
(ebd., 131). (Zu Heideggers Professoren-Schelte ganz im Sinne von N.s Gelehr-
tensatire vgl. ergänzend das Heidegger-Zitat in NK 287, 5-10.) Anschließend kri-
 
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